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Neue Streik-Strategie - IG Metall will komplette Lieferketten ausschalten

STRATEGIE | GENIOS WirtschaftsWissen Nr. 05 vom 30.05.2016


Der totale Streik

Am 28. April um 24 Uhr war sie vorbei, die Friedenspflicht. Dieser Zeitpunkt, der sich ohne Kontext wie das Ende eines Waffenstillstandes liest, nach dem die kriegerischen Parteien auch offiziell wieder das Recht haben, sich die Köpfe einzuschlagen, wird sich im Rückblick vielleicht als der Anfang einer Streikwelle in der deutschen Metall- und Elektroindustrie entpuppen, die in punkto Härte keine Vergleiche mit Auseinandersetzungen in der Vergangenheit zu scheuen braucht. Und in der Tat hat die IG Metall mit ihrem neuen Vorsitzenden Jörg Hofmann einen Arbeitskampf angekündigt, der auf ein neues Streikkonzept baut. Verabschiedet wurde es im Oktober vergangenen Jahres auf dem Gewerkschaftstag in Frankfurt am Main.

Im Wesentlichen geht es dabei um Folgendes: Die Gewerkschafter wollen mithilfe von Warnstreiks, die bis zu 24 Stunden dauern können, ganze Lieferketten ausschalten, um ihre Forderung nach einer Lohnerhöhung um fünf Prozent durchzusetzen. Eine Urabstimmung ist für diese Tagesstreiks nicht nötig, ein ja in den Betrieben genügt. Diese Ankündigung hält die Arbeitgeberseite für so perfide, dass sie von einer "Strategie der Schadensmaximierung" spricht. Denn noch nie vorher verfolgte die IG Metall den Plan, angefangen von der Rohstofflieferung bis hin zur Endmontage, die Unternehmen so komplett an der Produktion zu hindern wie in den bevorstehenden Streikrunden.

Hinter dieser Entscheidung steht aber auch noch ein weiteres Kalkül. Nach Ansicht der Verantwortlichen wird die Abstimmung in den Betrieben die Belegschaft politisieren und radikalisieren. Dies wiederum soll zu vermehrten Eintritten in die Gewerkschaft führen. Dass diese Strategie tatsächlich funktionieren kann, hat Ver.di gezeigt. Sie hat damit schon gute Erfahrungen gemacht.

Mit dem neuen Streikkonzept will die IG Metall verlorenen Boden gutmachen. Denn die Gewerkschaft ist in den letzten Jahren deutlich zahmer geworden. Im Vergleich mit Ver.di, die mit immer neuen Streikaufrufen die Schlagzeilen beherrscht, oder den Berufsvertretungen der Lokführer oder Piloten hat die IG Metall deutlich an Reputation eingebüßt. Damit soll jetzt Schluss sein - vorausgesetzt natürlich, es kommt nicht vorher zu einer Einigung. Die Chancen dafür stehen allerdings alles andere als gut. Schließlich ist die Diskrepanz zwischen dem was die Gewerkschafter für ihre rund 3,8 Millionen Mitglieder fordern und dem, was die Arbeitgeber zahlen wollen zu groß. Damit steht der Metallindustrie der härteste Arbeitskampf seit 2002 bevor, dem Jahr in dem die IG Metall zum letzten Mal zu unbefristeten Streiks aufgerufen hat. (1), (2), (3)



Trends


Wird die hiesige Streikkultur "französisch"?

Die neue Streikkultur, die sich die IG Metall auf die Fahnen geschrieben hat, erinnert an die harten Auseinandersetzungen, die Ver.di, GdL oder Cockpit in der jüngsten Vergangenheit gegen die Arbeitgeber geführt haben. Die Konsequenzen für die Bevölkerung waren verheerend: Chaos auf Flughäfen und Bahnsteigen, leere Briefkästen, geschlossene Kitas, überquellende Mülltonnen. Der volkswirtschaftliche Schaden, den diese Art Streiks anrichten, ist verheerend. In der Tendenz erinnern sie an die Kämpfe des französischen Nachbarn, in denen sich Arbeitnehmervertreter und Arbeitgeber wie unversöhnliche Feinde gegenüberstehen. Sie wollen keine Kompromisse, sondern den Gegner in die Knie zwingen. Auch die IG Metall scheint mit ihrer neuen Streikstrategie auf diesen Zug aufzuspringen und eine zunehmende "Französischisierung" ihrer bisherigen Arbeitskampfpraxis zu beabsichtigen. (2), (4), (5), (6)


DGB-Chef sieht keine neue Streikkultur in Deutschland

Dieser Einschätzung steht eine Aussage von Reiner Hoffmann, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gegenüber. Seiner Ansicht nach sei Deutschland von französischen Zuständen weit entfernt. Dort gebe es pro 1 000 Beschäftigte im Schnitt jährlich 139 Streiktage, in Deutschland seien es dagegen nur 16. Auch wenn die GDL-Exzesse einen anderen Eindruck erweckt hätten, die meisten Arbeitskämpfe hierzulande würden rational geführt und mit dem Willen, die Differenzen mithilfe von Verhandlungen beizulegen. Der These, dass es eine neue Streikkultur in Deutschland gebe, erteilte Hoffmann eine klare Absage. (4)



Fallbeispiele

In der ersten Woche nach Ablauf der Friedenspflicht nahmen nach Angaben der Gewerkschaft rund 360 000 Metaller an den Warnstreiks teil. (7)

In Baruth, einer Kleinstadt in Brandenburg, kämpfen rund 100 Mitarbeiter der Klenk Holz AG für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und für die Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Bereits Ende April legten die Beschäftigten, die von der IG Metall vertreten werden, zum ersten Mal für 24 Stunden die Arbeit nieder. Weitere lange Warnstreiks folgten oder stehen noch im Raum. Bisher sind sie allerdings ergebnislos geblieben. (8)

Ver.di hat vor kurzem für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes einen deutlichen Lohnzuwachs von insgesamt 4,75 Prozent herausgeholt. Angesichts der massiven Beeinträchtigungen vor allem im Flugverkehr, von denen Zehntausende von Reisenden betroffen waren, warf Innenminister Thomas de Maizière den Gewerkschaftsvertretern "Unverhältnismäßigkeit" vor. Das mag zwar stimmen, erreicht hat die Gewerkschaft ihr Ziel aber bereits während der dritten Verhandlungsrunde. (9)


Unversöhnliche Streithähne in Frankreich

Die derzeitige Streiksituation in Frankreich lässt nichts Gutes für die Fußball-EM erahnen, die am 10. Juni in Paris beginnen wird. Die CGT (Confédération générale du travail = Allgemeiner Gewerkschaftsbund) legt die für Frankreich so dringenden Arbeitsmarktreformen ohne Kompromissbereitschaft lahm. Besetzte Benzindepots, blockierte Raffinerien und belagerte Brücken sollen Ölimporte verhindern, um den Verkehr auf den französischen Straßen zum Stillstand zu zwingen. Und in der Tat ist der Sprit schon knapp geworden. Auch Beschäftigte der Atomkraftwerke des Landes beteiligen sich mittlerweile an den Streiks. Die Regierung behauptet zwar, dass der Arbeitskampf keinen Einfluss auf die Fußball-EM haben werde, doch angesichts der Unversöhnlichkeit, mit der sich beide Streitparteien gegenüberstehen, klingt das eher nach der in solchen Fällen üblichen Positivrhetorik von im Grunde überforderten Politikern. (4), (5)



Weiterführende Literatur:

(1.) Strategie des maximalen Schadens
aus WirtschaftsWoche NR. 018 vom 29.04.2016 Seite 032

(2.) IG Metall will für Chaos in den Unternehmen sorgen
aus Welt online vom 23.02.2016

(3.) IG-Metall-Chef droht mit hartem Arbeitskampf
aus FAZ.NET, 30.04.2016

(4.) DGB-Chef Reiner Hoffmann (60) im B.Z.-AM-SONNTAG-Interview zu den Ausständen der letzten Wochen
aus B.Z., 14.06.2015, Nr. 0, S. 6

(5.) Franzosen im Würgegriff der Gewerkschaften
aus Die Presse vom 2016-05-27, Seite: 5

(6.) Massive Streiks kurz vor der Fußball-EM: Chaostage in Frankreich!
aus Berliner Kurier vom 28.05.2016

(7.) Mercedes-Arbeiter im Warnstreik
aus Berliner Kurier vom 28.05.2016

(8.) Kein Ende der Streiks in Baruth
aus Märkische Allgemeine - Jüterboger Echo vom 27.05.2016, Seite 21

(9.) Einigung im öffentlichen Dienst
aus Fränkischer Tag Bamberg vom 30.04.2016, S. 1

Harald Reil

Metainformationen

Quelle: GENIOS WirtschaftsWissen Nr. 05 vom 30.05.2016
Dokument-ID: c_strategie_20160530

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