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Hoher Leistungsbilanzüberschuss - deutsche Volkswirte weisen internationale Kritik zurück

VOLKSWIRTSCHAFT | GENIOS WirtschaftsWissen Nr. 09 vom 26.09.2017


Weltmeister ohne Applaus

Deutschlands Wirtschaft brummt weiter, was sich insbesondere am Export und an der Leistungsbilanz zeigt. 2016 exportierte Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts Waren im Wert von 1,206 Milliarden Euro, der Wert der Importe lag bei 954 Milliarden Euro.

Hieraus resultiert ein Leistungsbilanzüberschuss von 252 Milliarden Euro, die gegenüber 2015 eine Zunahme um 1,1 Prozent bedeuten. Damit erreichte Deutschland im vergangenen Jahr den höchsten Leistungsbilanzüberschuss seiner Geschichte. Das Tempo der Leistungsentwicklung ist atemberaubend: Noch 2010 lag der Überschuss bei 154 Milliarden Euro und damit um 100 Milliarden Euro niedriger als im vergangenen Jahr. Deutschland ist damit Weltmeister bei der Leistungsbilanz und soll dies nach aktuellen Berechnungen auch in diesem Jahr bleiben.

Die Leistungsbilanz eines Landes resultiert zum einen aus dem Warenhandel, hinzu treten alle weiteren Transfers mit dem Ausland wie beispielsweise Dienstleistungen und auch die Entwicklungshilfe. Da Deutschland nicht nur Autos, Maschinen und Chemieprodukte exportiert, sondern ebenso die Kredite für deren Finanzierung, ist die Bundesrepublik gleichzeitig Weltmeister beim Kapitalexport.

Da ist es kein Wunder, dass die seit Jahren geäußerte Kritik am deutschen Exportüberschuss neue Nahrung erhält. Chef-Kritiker sind die IWF-Chefin Christine Lagarde, die US-Administration und nun auch der neue französische Präsident Emmanuel Macron. Die IWF-Chefin sieht Leistungsbilanzüberschüsse bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts als international verträglich an, Deutschland kommt jedoch auf ein Plus von acht Prozent seines BIP. Hieraus resultieren nach Ansicht der Kritiker Ungleichgewichte im internationalen Handel, die sich auf die globale Wirtschaft destabilisierend auswirken. Zudem stehe der deutsche Überschuss im Widerspruch mit den internationalen Handelsverträgen, in denen ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht als ein Leitziel formuliert ist.

In Deutschland stößt die Kritik nach wie vor auf taube Ohren. So sieht Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die deutschen Überschüsse als Ergebnis der hohen Attraktivität deutscher Produkte und nicht als Folge von Währungsmanipulationen - die insbesondere die USA Deutschland vorwerfen. Allerdings profitiert die deutsche Exportwirtschaft vom verbilligten Euro, der angesichts der Wettbewerbsstärke deutscher Unternehmen eigentlich zu niedrig notiert. Auch dies ist jedoch natürlich nicht die Folge von Währungsmanipulationen, sondern Resultat der expansiven Geldpolitik der (unabhängigen) Europäischen Zentralbank (EZB).

Der Kritikpunkt, dass Deutschland das Ungleichgewicht befördere, weil es zu viel spare und Investitionen im Inland verschleppe, ist nach Ansicht von Volkswirten zudem ein Mythos. Sie verweisen darauf, dass der Anteil der Inlandsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt mit etwa 20 Prozent gleich geblieben ist, obwohl das BIP kontinuierlich ansteigt. Hauptursache für den steigenden Leistungsbilanzüberschuss sind demnach Vorsorgerückstellungen, mit denen sich Deutschland auf den demografischen Wandel und damit auf den prognostizierten Rückgang von Rentenbeiträgen und auf den Anstieg der Kosten im Gesundheitswesen vorbereitet.

Gleichwohl schadet die Diskussion Deutschlands Rolle innerhalb der Europäischen Union. Immerhin gilt die Regel, dass ein Land mit einem Leistungsbilanzüberschuss von über sechs Prozent hiergegen vorgehen muss, um Ungleichgewichte abzubauen. Da Deutschland bei anderen Ländern gerne auf die Einhaltung von EU-Bestimmungen pocht, gibt es ein schlechtes Bild ab, wenn es selbst EU-Bestimmungen ignoriert.

Allerdings sind die Hebel, mit denen Berlin Einfluss nehmen kann, eher klein. So sorgt die Tarifautonomie dafür, dass die Bundesregierung außer dem Mindestlohn keinen Einfluss auf Lohnabschlüsse hat. Die Anhebung des Mindestlohns würde wahrscheinlich ebenfalls nicht zu mehr Binnenkonsum führen, weil sich hierdurch gleichzeitig die Arbeitslosigkeit erhöhen könnte.

Auch eine Anhebung der öffentlichen Investitionen, etwa für das Militär oder die Erneuerung der Verkehrsinfrastruktur, lässt sich nicht auf die Schnelle realisieren. Dies, weil die militärische Beschaffung ein langwieriger Prozess ist und die Bauindustrie in Deutschland wegen der bereits vorhandenen Bautätigkeit ausgelastet ist. Volkswirte sehen daher in der Förderung von Unternehmensinvestitionen einen gangbareren Weg, etwa durch die steuerliche Entlastung von Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Modernisierung. (1), (2), (3)


Lohnargument geht ins Leere

An der Lohnentwicklung in Deutschland kann die Politik mithin nicht viel ändern, jedoch bleibt das Lohnniveau ein Hauptkritikpunkt insbesondere von angelsächsischen Volkswirten. Sie sehen die Wettbewerbsvorteile deutscher Produkte als Resultat künstlicher Lohnzurückhaltung, die den deutschen Unternehmen unrechtmäßige Vorteile verschafft. Deutsche Volkswirte halten auch hier dagegen. So weicht der Binnenkonsum hierzulande gar nicht so stark von der Entwicklung in Spanien und Italien ab, wie es die Kritiker der deutschen Überschüsse behaupten. Zudem war die relative Lohnzurückhaltung - die ohnehin nur in den Jahren 1999 bis 2007 signifikant war - eine angemessene Reaktion auf die in Deutschland damals hohe Arbeitslosenquote. Wenn sich heute immer noch weniger Geld in den Taschen der Konsumenten befindet, liegt das viel mehr an der von der EZB verursachten Niedrigzinsphase, die die Kapitalerträge seit Jahren stark nach unten drückt. Einen weiteren Beitrag zum deutschen Leistungsbilanzüberschuss liefert überdies der niedrige Ölpreis, dessen Entwicklung ebenfalls nicht durch die Politik beeinflusst werden kann. (7)


Deutschland zu sparsam?

Auch die Volkswirte der staatlichen Förderbank KfW sehen die deutsche Sparneigung als einen wichtigen Grund für den hohen Leistungsbilanzüberschuss. Das nicht konsumierte volkswirtschaftliche Einkommen werde demnach nicht im Land selbst angelegt, sondern im Ausland. So betrug das deutsche Auslandsvermögen 2016 1,7 Milliarden Euro und damit rund 54 Prozent der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung. Die KfW-Volkswirte sehen das Vorgehen wegen der überalternden deutschen Bevölkerung als verständlich an, sehen aber gleichzeitig die Gefahr, dass das geparkte Geld durch Wechselkurseffekte geschluckt werden könnte. Dass die deutschen Unternehmen mehr sparen als investieren, war übrigens nicht immer so. Unternehmen und Staat waren jahrelang starke Investoren, bevor sie auf den aktuellen Sparkurs umschwenkten.

Die Fachleute der KfW sehen es allerdings als falschen Weg an, die Überalterung der Gesellschaft durch Sparguthaben aufzufangen. Viel mehr sei es sinnvoll, durch stärkere Investitionen sicherzustellen, dass die Produktivität der Unternehmen auch bei alternden Belegschaften hoch bleibt. Wie kompliziert es ist, den deutschen Leistungsbilanzüberschuss volkswirtschaftlich zu erklären, zeigt die Einstellung der KfW zu der Erklärung, dass der Eurowechselkurs die hohen deutschen Exporte begünstige. Immerhin hatte es 2007 und trotz der EZB-Geldschwemme seit 2014/15 durchaus Aufwertungstendenzen beim Euro gegeben. Wäre der Euro eine rein deutsche Währung, hätte die Aufwertung nur etwas höher ausfallen müssen, um die Leistungsbilanz stärker zu dämpfen. (4), (5)



Trends


Exporte steigen langsamer

Der Juni dieses Jahres hat der erfolgsverwöhnten deutschen Exportwirtschaft einen Dämpfer verpasst. Mit minus 2,8 Prozent im Vergleich mit dem Vormonat sanken die Ausfuhren so stark wie seit zwei Jahren nicht mehr. Ein echter Trend ist dies allerdings nicht, denn der Schwund ist vermutlich auf zwei Feiertage zurückzuführen. (6)



Fallbeispiele


Auslandsvermögen nur auf dem Papier

Der bekannte Volkswirt Hans-Werner Sinn verweist darauf, dass die angeblich hohen Auslandsvermögen Deutschlands nur auf dem Papier bestehen. So besteht die Hälfte des Auslandsvermögens lediglich aus den so genannten Target-Forderungen der Bundesbank an die EZB, die nicht verzinst werden und deren Rückzahlung ungewiss ist. Um Deutschlands Überschüsse zurückzufahren, empfiehlt der Experte einerseits ebenfalls Abschreibungsvergünstigungen auf Unternehmensinvestitionen; zum anderen müssten hoch verschuldete Länder wie die USA und Südosteuropa endlich wieder zu einer Politik der Haushaltsdisziplin zurückkehren. (8)



Weiterführende Literatur:

(1.) Überschuss. Die politische Seite
aus Luxemburger Tageblatt vom 19.07.2017

(2.) Deutschland bleibt für IWF ein Leistungsbilanzsünder
aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.2017, Nr. 174, S. 20

(3.) Deutsche Exporte. Kritik an der Kritik
aus Handelszeitung Nr. 33 vom 17.08.2017 Seite 17

(4.) Was den deutschen Überschuss treibt
aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.08.2017, Nr. 182, S. 16

(5.) Lebensstandard wichtiger als Leistungsbilanz
aus Börsen-Zeitung vom 25.08.2017, Nr. 163, S. 7

(6.) Deutsche Export-Übermacht schwindet
aus Handelsblatt Nr. 152 vom 09.08.2017 Seite 013

(7.) Kritik an deutscher Lohnpolitik geht ins Leere
aus WirtschaftsWoche online 09.08.2017 um 12:20:00 Uhr

(8.) Wie man deutsche Bilanzüberschüsse reduzieren könnte
aus "Die Presse" vom 26.07.2017 Seite: 23

Robert Reuter

Metainformationen

Quelle: GENIOS WirtschaftsWissen Nr. 09 vom 26.09.2017
Dokument-ID: c_vwl_20170926

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