Inhaltsverzeichnis vom 15.06.2022

Es wird heiß, sehr heiß. Mit 30, 32, 34 Grad Celsius, örtlich sogar mit mehr, rechnen die Meteorologen, wenn die angekündigte Hitzewelle aus Südwesteuropa in diesen Tagen die Schweiz überrollt. An zahlreichen Messstationen im Land könnten die Rekorde für die höchsten je im Juni gemessen Temperaturen fallen. So lassen es die Prognosen vermuten.

Damit setzt sich im Jahr 2022 ein viel zu warmes Frühjahr fort. Im Mai wurden in Lugano und Genf so viele Sommertage gezählt wie noch nie. 15 statt vier, wie im langjährigen Durchschnitt. Noch dazu war es viel zu trocken. Südlich der Alpen fiel letztmals vor 50 ...

I ch stehe mitten im Wald, zwölfjährig, allein. Es ist helllichter Tag auf der Bürenfluh bei Gempen im Kanton Solothurn, aber ich sehe nur dunkelstes Grün. Mein Magen zieht sich zusammen, der Boden unter den Füßen wankt, als ich merke: Ich habe keine Ahnung, wo ich bin!

Ich starre auf die Karte, sehe Wegkreuzungen, Sitzbänke und Kulturgrenzen, lichter Wald, dichter Wald und offene Wiesen. Ich kenne alle Zeichen, alle Farben auf der Karte. Aber ich bringe sie nicht überein mit dem Ort, an dem ich mich befinde. Ich bin blind vor lauter Grün. War ich schon da? Bin ich noch ...

Natürlich, es wäre besser gewesen, wenn der Bundeskanz ler schon früher nach Kiew gereist wäre. Zeit ist ein entscheidender Faktor in der Poli tik und erst recht im Krieg. Hätte Olaf Scholz schon drei Wochen nach Beginn der russischen Invasion den Weg in die belagerte Hauptstadt gefunden, wie seinerzeit seine polnischen, slowenischen und tschechischen Kollegen, hätte er Mut bewiesen, ein echtes Interesse am Schicksal der überfallenen Nation gezeigt und den Willen zu führen. All das lässt sich nun nicht mehr nachholen.

Und dennoch ist es richtig, wenn der Kanzler jetzt Kiew besucht (was bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht völlig sicher war). E ...

Wie sehen eigentlich Demokratie-Mörder aus? Vergangene Woche hat in Amerika der Versuch begon nen, diese Frage zu beantworten. Vor dem Kon gress fingen die Anhörungen zum Sturm auf das Kapitol an. Am 6. Januar 2021 hatten Trump-Anhänger das Kapitol gewaltsam gestürmt, um die Wahl von Joe Biden zum neuen Präsidenten der USA zu verhindern. Bei den Anhörungen soll geklärt werden, wer dafür verantwortlich ist und welche Rolle der ehemalige Präsident dabei möglicherweise spielte.

Wer verfolgen wollte, wie Amerika den Nahtod seiner Demokratie aufarbeitet, konnte das zur besten Sendezeit um 20 Uhr live im Fernsehen tun. Doch noch bevor die Anhörungen losgingen, hagelte ...

Neulich waren Robert Habeck und Olaf Scholz zusammen unterwegs. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft hatte rund 1500 Leute in einer Halle am Berliner Gleisdreieck versammelt. Erst redete Olaf Scholz. Dann redete Robert Habeck. Dann trat der Kabarettist Florian Schröder ans Mikrofon. Er lobte die Besetzung der Veranstaltung. Es sei ja wirklich bemerkenswert, welche hochkarätigen Gäste man hier antreffen könne. Olaf Scholz sei dagewesen. Und der Kanzler.

Ein paar Wochen zuvor besuchte Annalena Baerbock die Ukraine. In Kiew traf sie den ukrainischen Außenminister, und in Irpin und Butscha besuchte sie die Orte russischer Kriegsverbrechen. Sie sagte: "Diese Opfer könnten wir ...

Die kurze Dienstfahrt in Daniel Günthers Limousine beginnt direkt am Kanzleramt und endet exakt 53 Minuten später am Hauptbahnhof von Kremmen, im toten Winkel Brandenburgs. Von dem, was er in der Zwischenzeit sagt, darf man zwar nur ein paar Brosamen zitieren. Aber es verschafft eine Idee davon, wie die CDU ihr strategisch kniffligstes Problem lösen will: mit den zur Volkspartei anschwellenden Grünen zugleich koalieren zu wollen und konkurrieren zu müssen. Schon in knapp zwei Wochen soll Daniel Günther, 48, mit deren Hilfe ein zweites Mal zum Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein gewählt werden - nach seinem fast adenauerhaften Wahlsieg von 43,4 ...

Es ist Montag, der 6. Juni, um kurz vor halb elf. Im "Board Room C" des Vienna International Centre, einem fensterlosen, holzvertäfelten Saal, drängen sich die Diplomaten, gleich beginnt die Sitzung. Fünfmal im Jahr trifft sich der Vorstand der IAEO, der Internationalen Atomenergie-Organisation, auf dem Campus der Vereinten Nationen in Wien. 35 Nationen gehören ihm an, man kennt sich. Im Plenum herrscht eine Stimmung wie bei einem Familientreffen. "Mais qui est-ce que je vois ici?" - Aber wen sehe ich denn da?" -, freut sich ein älterer Diplomat und klopft auf die kantige Anzugschulter eines Gegenübers. Eine andere ...

DIE ZEIT: Präsident Selenskyj, vor fast vier Monaten hat Russland die Ukraine überfallen. Es ist noch kein Ende des Krieges in Sicht, die Zahl der ukrainischen Opfer ist schockierend hoch. Laut einem Bericht des britischen Guardian sterben täglich rund 150 Ukrainer an der Front, 800 werden verwundet. Wie lange können Sie und Ihr Land noch durchhalten?

Wolodymyr Selenskyj: Wir halten so lange durch, wie es sein muss. Anfangs glaubten viele Beobachter auf der ganzen Welt, die russische Armee würde uns innerhalb kürzester Zeit überrennen. Wir hielten stand. Der Preis für das Durchhalten ist unfassbar hoch. Selbstverständlich wollen wir unsere Menschen ...

WICHITA/ AUSTIN/ GUANAJUATO

Mark Gietzen war überzeugt, er würde diesen Triumph nicht mehr erleben. In seinen Augen sind die USA gerade dabei, sich nach Jahrzehnten der Grausamkeit endlich zum Guten zu wenden, und er sagt, er habe einen nicht unerheblichen Anteil daran. Seit 20 Jahren geht er dafür auf die Straße. Er steht am Rande eines Highways in Wichita, Kansas, vor einem Flachbau, der von außen aussieht wie eine fensterlose Lagerhalle. "Trust Women" steht auf der grau-beigen Fassade. Im Inneren befindet sich eine der letzten Abtreibungskliniken des Bundesstaates.

"Lasst uns das Morgengebet sprechen", sagt Mark Gietzen zu den zwei älteren Herren ...

Chinas Staatschef Xi Jinping hat seinem Land bis 2050 den Aufstieg an die Fußballweltspitze verordnet: China soll bis dahin nicht nur eine Fußball-WM ausrichten - sondern auch gewinnen. Als Zwischenetappe war für den Sommer 2023 die Austragung der Asienmeisterschaft in zehn chinesischen Städten geplant. Acht neue Stadien wurden dafür binnen dreier Jahre hochgezogen, zwei renoviert. Gesamtbaukosten: an die vier Milliarden Dollar. Doch nun werden die Stadien im kommenden Sommer leer bleiben, China hat die Spiele abgesagt. Der kommunistischen Führung fehlt offenbar die Zuversicht, die Corona-Pandemie bis Mitte 2023 in den Griff zu bekommen.

China stehen schwierige Zeiten bevor. Noch im ...

Aktuelle Civey-Umfrage für die ZEIT

Just do it wäre natürlich kein schlechter Slogan, wenn es darum geht, die Menschen aus ihrer heizpilzbestrahlten Sorglosigkeit zu erwecken und zum Energiesparen anzuhalten - aber ein Sportartikelhersteller hätte wohl was dagegen. Immerhin waren die PR-Berater von Nike ja zuerst auf die Idee gekommen, die letzten Worte des Doppelmörders Gary Gilmore vor seiner Hinrichtung 1977 im US-Bundestaat Utah - "Let′s do it" - in den erfolgreichsten Werbespruch aller Zeiten zu verwandeln. Außerdem verstehen Menschen, die sich von Terrassenheizstrahlern ihre Hirnzellen systematisch wegbrezeln lassen - wie käme man sonst auf die Idee, sich einen solchen Klimawandelbeschleuniger anzuschaffen? - ...

Manchmal hat man den Eindruck, als handele es sich bei dem Ansinnen der Ukraine, der EU beizutreten, um eine Art Gnadengesuch. Als könne die Union nun in Ruhe überlegen, ob sie dem bedrängten Nachbarn einen Gefallen gewährt - oder nicht. Was für eine absurde Perspektive! Muss man wirklich daran er innern, dass die Ukraine die Umstände, unter denen sie jetzt die Aufnahme in die Union beantragt, nicht zu verantworten hat?

Die moralische Fallhöhe der Entscheidung, vor der die EU in diesen Tagen steht, ist schnell erfasst. Die Ukraine ist in höchster Not, das Land Opfer eines barbarischen Krieges, seine Bevölkerung hat ...

POLITIK

Titelthema: Der Höhenflug Die Grünen und ihr unheimlicher Erfolg VON ROBERT PAUSCH 2

CDU Wie der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther die Grünen einhegen will VON MARIAM LAU 4

Iran Hat das Atomabkommen noch eine Chance? VON ANNA SAUERBREY 5

Ukraine Ein Interview mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj 6

Mail aus Moskau Wie russische Frauen der Obrigkeit trotzen VON MICHAEL THUMANN 7

USA Der Oberste Gerichtshof könnte schon bald das Recht auf Abtreibung kippen. US-Bürgerinnen suchen nun Hilfe in Mexiko VON AMRAI COEN UND SAMIHA SHAFY 8

China Hat die neue Supermacht ihren Zenit bereits überschritten? VON XIFAN YANG 10

STREIT

Fachkräftemangel Braucht das Land mehr Meister statt ...

Manche Fragen sind zu groß für einen Artikel, einen Autor oder zwei; wahrscheinlich braucht man viele Jahre und viele Menschen, um sie zu beantworten. Eine dieser Fragen lautet: Wenn die existenzielle, dramatische und dringliche Krise im Mensch-Natur-Verhältnis wissenschaftlich so offensichtlich ist, allenthalben besprochen wird und viele Mittel zu ihrer Behebung zur Verfügung stehen, warum geht die Menschheit dann immer tiefer in diese selbstzerstörerische Krise hinein?

Warum verdrängt sie, was sie fortwährend bespricht?

Bei der Suche nach einer Antwort stießen wir auf einen Aufsatz von Sigmund Freud. Der hat sich vor gut hundert Jahren schon einmal mit der Frage befasst, was ...

Warum widmet die ZEIT der "berühmtesten Opernsängerin der Welt" eine ganze Doppelseite?

Anna Netrebkos Nähe zu dem Verbrecher Putin steht außer Frage. Jetzt versucht sie zurückzu rudern und sucht Erklärungen für ihr Verhalten - muss diese moralische Verfehlung noch breit getreten werden? GUIDO BATHE, BERLIN

"In der allergrößten Not führt der Mittelweg zum Tod" - diese "68er-Weisheit" gilt sowohl für Anna Netrebkos Haltung zum Ukraine-Krieg und zu Putin als auch für das Interview selbst. Wenn hier, wie Sie schreiben, die Passagen abgeschwächt oder sogar gestrichen wurden, "die Netrebkos Karriere mutmaßlich schaden könnten, weil sie den Star in Russland als zu westlich und im ...

Kann die ZEIT nur noch Scholz-Bashing? Ich erinnere mich kaum daran, einen positiven Artikel über den Bundeskanzler gelesen zu haben.

Für mich als Leser ist diese einseitige Meinungsmache kaum noch zu ertragen. RÜDIGER PAUL, PER E-MAIL

Macht Olaf Scholz alles falsch? Nein, im Gegenteil, er macht fast alles richtig. Statt sich in Kriegsrhetorik zu ergehen und über schwere Waffen zu schwadronieren - geliefert werden sie dennoch, ohne das groß herauszuposaunen -, versucht Scholz ebenso wie Emmanuel Macron den Gesprächskanal zu Putin aufrechtzuerhalten. Denn eins ist klar: Ohne die Einbeziehung Russlands wird es im Ukraine-Konflikt weder einen Waffenstillstand noch gar eine Friedenslösung geben. D ...

Der Beitrag in der Zeitschrift Foreign Affairs ist nicht namentlich gezeichnet, "By X" lautet die Autorenzeile, die Wirkung des Artikels aber ist enorm. In geschliffenen Sätzen schildert der anonyme Verfasser, mit wem man es im Kreml zu tun habe: Die Moskauer Machthaber betrachteten jede Opposition als illegitim und von äußeren Feinden gelenkt. Sie strebten nach totaler Kontrolle im Innern und pflegten den Mythos einer permanenten Bedrohung von außen. Ihre Außenpolitik sei geprägt von Doppelzüngigkeit. Was als Wahrheit aus ge geben werde, ändere sich mitunter von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Bezüglich seiner Ziele aber denke der erste Mann im Kreml ...

Trillerpfeifen lärmen, rote Fahnen flattern im Wind, bengalische Feuer verbreiten den Geruch von Schwarzpulver: Warnstreik im Hamburger Hafen. Hunderte Hafenarbeiter in neongelben und orangefarbenen Westen drängen sich am Freitag vergangener Woche auf einem Parkplatz vor dem Burchardkai, einem Containerterminal. Ein ver.di-Funktionär wendet sich am Mikrofon an die Arbeiter und schimpft, das Angebot der Arbeitgeber sei "kackendreist".

Fragt man einige der Männer (es sind überwiegend Männer) im Getümmel, drücken sie sich weniger derb aus, aber die Botschaft ist dieselbe. "Die wollen uns mit zwei, drei Prozent mehr Lohn abspeisen, das ist lächerlich", sagt etwa Sebastian Kalkowski. Der Hafenfacharbeiter erzählt, er ...

Hier fielen einst rote Rosen für Brigitte Bardot vom Himmel, und bis heute steuern im Sommer die Jachten von Millionären und Milliardären aus der ganzen Welt die Hafenbucht des Ortes an: Saint-Tropez an der französischen Riviera ist Wiege und Klischee des internationalen Jetsets, hell ist es hier und schön. Am vergangenen Sonntag aber wurde es wieder einmal hässlich. Da triumphierten in Saint-Tropez rechtsextreme Kandidaten, zum wiederholten Mal: In der ersten Runde der Parlamentswahlen brachten es die Parteien Rassemblement National von Marine Le Pen und Reconquête! des verurteilten Rassisten Éric Zemmour im Wahlkreis, in dem Saint-Tropez liegt, zusammen auf fast ...

Das hat der Tankrabatt erreicht: In Deutschland wird neu über das Verhältnis von Wirtschaft und Staat diskutiert. Weil die Benzinpreise trotz der staatlichen Steuer nachlässe hoch sind, diskutieren Politiker jetzt über die Gewinne der Mineralölkonzerne. Dabei tauchen immer neue Fragen auf. Längst geht es nicht mehr nur um krisenbedingte Sonderprofite, sondern es geht grundsätzlich um den Umgang mit der Marktmacht privater Unternehmen.

Behalten die Konzerne den Tankrabatt ein?

Fest steht: Nach der Einführung des Nachlasses sind die Spritpreise zunächst gefallen. Allerdings sind sie vorher auch gestiegen. Und sie steigen nun weiter. Ein Liter Super kostet im Schnitt heute wieder so viel ...

Auf den Unsinn folgt nun also Willkür. Schon die Entscheidung der Bundesregierung, angesichts steigender Kraftstoffpreise mit einem Tankrabatt drei Monate lang jeden an der Zapfsäule erworbenen Liter Sprit zu subventionieren, war aus ökonomischer und verteilungspolitischer Sicht vollkommen widersinnig: weil durch den Zuschuss die Nachfrage nach Diesel und Benzin sogar steigt, was wiederum den Preis treibt, und weil vermögende im Vergleich zu ärmeren Haushalten besonders und unnötigerweise davon profitieren. Nun sind die Spritpreise trotz Rabatt im historischen Vergleich weiterhin hoch, sodass führende Politiker der Regierungsparteien angesichts vermuteter Krisengewinne der Mineralölkonzerne eine sogenannte Übergewinnsteuer fordern oder ein schärferes Wettbewerbsrecht.

Die Forderung nach ...

Europol-Ermittler James Martin, Dienstnummer GB2314, hat eine schlechte Nachricht. Fall Nummer LDCW70108: "Schreiben Sie mit!" Der strenge Ermittler lässt keinen Zweifel daran, dass ich in massiven Schwierigkeiten stecke, nachdem er mich an einem Nachmittag im Mai nach meinem Namen und den letzten drei Ziffern meiner Ausweisnummer gefragt und mich aufgefordert hat, das Großraumbüro zu verlassen. Alles, was er sage, sei schließlich vertraulich. Was er schildert, ist schrecklich: Ein total verbeultes Auto mit Blutspuren sei im Süden Berlins gefunden worden - angemietet auf meinen Namen. Zudem seien mehrere Konten auf meinen Namen eröffnet worden, über die Geld wäsche betrieben worden sei. D ...

Es gibt Menschen, die wirken immer kleiner und weniger mächtig, je näher man ihnen kommt. Und es gibt Menschen, bei denen es genau andersherum ist. So ein Mensch ist Hal Harvey. Je mehr Organisationen man nach seinem Namen durchforstet, je mehr Aufsätze und Bücher man von ihm liest, desto größer wirkt er. Am Ende steht eine Gewissheit: Hal Harvey, 61 Jahre alt, US-Amerikaner und der breiten Öffentlichkeit unbekannt, ist einer der mächtigsten Lobbyisten der Welt. Allerdings vertritt er nicht, wie man das bei einem mächtigen Lobbyisten vielleicht vermuten würde, die Interessen der Öl- oder Autoindustrie, sondern die ihrer Gegner. Er ...

Lieber Herr Yilmaz,

wenn ich zynisch auf Ihre Frage antworten wollte, würde ich sagen: Legen Sie Ihr Geld doch auf ein Sparbuch - da bekommen Sie garantiert keine Zinsen! Aber geholfen wäre Ihnen damit wohl nicht. Denn ich gehe mal davon aus, dass Sie nicht nach irgendeiner unrentablen Anlage suchen, mit der Sie Ihrem Geld beim Wertverfall zusehen können. Sie möchten Ihr Geld vermehren, jedoch ohne dabei gegen die Gebote Ihres Glaubens zu verstoßen. Sie brauchen ein Finanzprodukt, das Ihnen Gewinne einbringt, aber nicht in Form von Zinserträgen.

Denn Zinsen sind der islamischen Lehre zufolge tabu - ganz egal, ob ...

Man kann nur erahnen, wie sehr Thomas Bruch und sein Sohn Matthias in diesen Tagen hadern: raus aus Russland? Oder bleiben, trotz des anhaltenden Kriegs in der Ukraine? 19 Lebensmittelmärkte schließen - oder offen halten? 9900 Mitarbeiter weiterbezahlen - oder sich selbst überlassen?

Die beiden Bruchs, der 72-jährige Thomas und der 38-jährige Matthias, stehen hinter der Handelskette Globus aus St. Wendel im Saarland, die seit 2005 in Russland Geschäfte macht und dort 2020 einen Umsatz von mehr als einer Mil liar de Euro erzielt hat. Aber bei Globus legt man Wert darauf, dass es nicht nur ums Geld geht: Das Unternehmen hat ...

Der Mann ist seit mehr als 25 Jahren tot. Zu Lebzeiten war er ein Großer, aber das ist lange her, und viele werden sich an seinen Namen kaum erinnern: Henri Nannen.

Nannen hat das Magazin stern gegründet, doch es wäre einfallslos, ihn einen einflussreichen Journalisten zu nennen: 1969 flog Nannen mit Bundeskanzler Willy Brandt nach Moskau, als dieser seine neue Ostpolitik verhandelte. Als Brandt ein Jahr später am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos seinen historischen Kniefall tat, stand Nannen wieder neben ihm. Sein stern war damals die auflagenstärkste Illustrierte weltweit, und wenn man so will, betrieb der Journalist ...

Als im Jahr 1248 der Grundstein des Kölner Doms gelegt wurde, konnten die Baumeister nicht vorhersagen, wie lange die Errichtung der Kathedrale dauern würde. Sie wussten zwar, wie sie die Sache anzugehen hatten und wie ihre Kirche aussehen sollte. Doch ob der Bau wirklich gelingen würde oder ob ihnen die Gelder ausgehen, die Arbeiter davonlaufen oder ob Kriege das bereits Errichtete zerstören würden - das wussten sie nicht. Sie konnten nur darauf hoffen, dass nachfolgende Generationen ihr Werk beenden würden. Ihr kühnes Vorhaben baute letztlich auf ein Fundament aus Zuversicht.

Dasselbe gilt für die Astronomie. Wer die unendlichen Weiten des ...

DIE ZEIT: Herr Stöhr, 2003 waren Sie an der Auslöschung des ersten Sars-Ausbruchs führend beteiligt. Damals war Christian Drosten in einem Ihrer Teams. Nun sind Sie nach seinem Ausscheiden als Nachfolger in den Corona- Sachverständigenausschuss berufen worden. Hat Sie das überrascht?

Klaus Stöhr: Nein. Ich denke, die CDU hat mich vorgeschlagen wegen meiner Erfahrung in der Seuchenbekämpfung, Impfstoffforschung und Epidemiologie.

ZEIT: Bereits Ende dieses Monats soll der Ausschuss einen Bericht vorlegen, der die nicht pharmazeutischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie bewertet. Können Sie dazu überhaupt noch etwas Neues beitragen?

Stöhr: Die Kapitel sind nach langer Arbeit bereits in der Endfassung oder ...

Ein Gleichnis: Schreitet eine elegante Dame den roten Teppich entlang. Kommt von hinten eine junge Joggerin angerannt. "Dieser Teppich ist nicht für dich bestimmt", sagt die Dame. "Ich weiß", ruft die Joggerin, rollt den roten Teppich ein und zieht an ihr vorbei.

Die Dame, das sind die 120 Universitäten in Deutschland. Die Joggerin, das sind die 243 Fachhochschulen. Und der rote Teppich - das ist ein Exklusivrecht, das die Universitäten seit Jahrhunderten für sich beanspruchen: das Promotionsrecht. Nur sie dürfen Doktorgrade verleihen und entscheiden, wem später eine wissenschaftliche Karriere offensteht. Die Fachhochschulen fanden das irgendwann nicht mehr fair: Auch hier bilden Professoren ...

Als Lisa ihren Mut zusammennahm und Mariia in der Kanti nen schlange ansprach, war der Krieg, der sie lange sprachlos gemacht hatte, schon knapp einen Monat alt. Sie habe eine Idee, sagte Lisa zu Mariia. Ob sie Lust auf eine Aktion habe.

Lisa Volkova kommt aus Moskau. Mariia Horodyska stammt aus der Nähe von Lwiw im Westen der Ukraine. Vermutlich wären die beiden 18-jährigen Schülerinnen sich nie begegnet, über tausend Kilometer trennen ihre Heimatstädte. Seit einem Jahr aber besuchen Lisa und Mariia dieselbe Schule, das Robert-Bosch-College in Freiburg im Breisgau.

Die Schule ist Teil eines internationalen Netzwerks, der United World Colleges (UWC), 1 ...

Wo heute Nevadas Grenze mit dem US-Staat Oregon im Wüstenstaub verschwimmt, entlud sich vor rund 16 Millionen Jahren ein enormer Druck. Landmassen hoben sich, Magma drängte nach oben, bis die Kruste platzte und ein Supervulkan 1000 Kubikkilometer Asche und Lava in Richtung Himmel spie. Aufgetürmtes Gestein krachte in sich zusammen und formte einen 40 Kilometer langen, ovalen Kessel.

So gewaltig das Getöse gewesen sein mag, unter dem damals die McDermitt Caldera entstand, umso stiller ist es heute an ihrem Südzipfel. Hier liegt, eingefräst zwischen zwei rotbraunen Bergketten, der Thacker Pass. In unzähligen Tupfen überzieht Wüstenbeifuß das Land: silbergrüne Sträucher, die ...

Wer diese Frage stellt, hat den wichtigsten Schritt schon getan: Der besteht nämlich in der Erkenntnis, dass einen etwas beschäftigt oder emotional aus der Bahn geworfen hat - und dass man über dieses Problem nicht mehr so viel nachdenken will.

Seinen Frieden kann man mit den unterschiedlichsten Dingen machen. Das beginnt mit vermeintlichen Petitessen wie der zertrümmerten Lieblingstasse, geht über Unzufriedenheit mit Nase, Hüften oder sonstigen Körperteilen, bis zum Tod der Großmutter, von der man sich nicht richtig verabschiedet hat.

Bei kleineren Ärgerlichkeiten im Alltag ist es nützlich, sich zu fragen: Wie wichtig ist das eigentlich noch in einer Woche? I ...

Als Paradebeispiel für dieses Phänomen wird gern eine Mutter genannt, deren Kind unter ein Auto gerät - und plötzlich ist die zierliche Frau in der Lage, das anderthalb Tonnen schwere Gefährt anzuheben und das Kind zu befreien. Woher nimmt sie diese Kraft?

Man muss nicht das Wort "übermenschlich" bemühen, um die wirklich erstaunlichen Leistungen zu erklären, die Menschen entwickeln, wenn sie anderen in einer Notsituation zu Hilfe eilen. Ohne die Bewunderung für diese Heldinnen und Helden zu schmälern: Sie heben ja nicht das ganze Auto in die Luft, sondern lupfen es an einer Seite an, oft muss nicht einmal ein ...

DIE ZEIT: Herr Neumeier, Sie haben viel in Russland gearbeitet und genießen als einer der wenigen Ballett-Choreografen aus dem Ausland dort große Anerkennung. Wie verändert der Krieg das Ballett?

John Neumeier: Es ist eine Tragödie. In der Ballettgeschichte ist Russland sehr wichtig, einer der Wendepunkte meines Lebens war die Begegnung mit der russischen Lehrerin Vera Volkova. Seit ich mit dem Hamburg Ballett 1981 im damaligen Leningrad den Sommernachtstraum inszenierte - eine Revolution in streng sowjetischen Zeiten -, habe ich eine künstlerische und menschliche Verbindung zu Russland. Als es etwa nach dem Homosexuellengesetz hieß, man solle nicht mehr nach Russland, ging ...

Mit Start des Erasmus-Programms vor 35 Jahren ging Europa auf seine jungen Bürgerinnen und Bürger einen großen Schritt zu. Studierende für Europa zu gewinnen, das war das Ziel inmitten einer Krise der Europäischen Gemeinschaft. Nach den wirtschaftlichen Erfolgen in den 1950er-Jahren war die europäische Idee dreißig Jahre später ins Stocken geraten, der Begriff "Eurosklerose" ging um.

"Man verliebt sich eben nicht in einen Binnenmarkt", brachte der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors die fehlenden Emotionen auf den Punkt. Neben der Direktwahl des Europaparlaments setzte er auf den Ausbau der Programme für die Jugend. Und tatsächlich: Am 15. Juni 1987 begann die Kommission ...

Wenn am Wiebachhof 2 in Bergheim in Nordrhein-Westfalen ein Auto hält und jemand mit einer großen Tüte aussteigt, ist die Aufregung groß und das Geschnatter laut: Was mag wohl darin sein? Altes Brot wäre toll, auch angeditschte Gurken sind beliebt. "Aber am besten ist Salat", sagt Leona, "das ist wie Weihnachten." Das Mädchen ist natürlich nicht selbst heiß auf hartes Brot und Matschgemüse. "Aber die hier lieben es", sagt Leona, grinst und zeigt auf die Hühner, die um ihre Füße herumwuseln.

Das Mädchen ist 9 Jahre alt und steht regelmäßig zwischen dem Geflügel. So wie andere Kinder zum Fußball ...

An einer dieser Autoschneisen, bei denen man immer gleich denkt, es gehe in Kassel vor allem darum, Kassel so rasch wie möglich zu entkommen, hat gerade die Kapuzinerkresse ein paar zarte Wurzeln geschlagen. Auch Bohnen gibt es da, sie blühen bereits, dazu einige Stängel Mais. Ein Gemüsebeet im tosenden Nirgendwo - so sieht sie aus, die am kommenden Wochenende beginnende Documenta, die besonders das Unscheinbare schätzt, auch das Vorläufige und überhaupt alles, was frei vor sich hin wuchert.

An den Hang unterhalb der Documenta- Halle schmiegt sich neuerdings ein bengalischer Küchengarten. Auf der Fulda treiben schwimmende Blumen inseln. Tief drinnen im Rondell, e ...

Das berühmte Bild von Heinrich Böll vor seinem Cottage auf Achill Island zeigt ihn nicht vor seinem Cottage, sondern vor dem Haus einer Nachbarin, schließlich war er nach Irland gekommen, um Ruhe vor der Presse zu haben. Das echte Cottage befindet sich auf der anderen Straßenseite und ist so perfekt von einer Fuchsienhecke verdeckt, dass Böll-Pilger es niemals fänden, wenn nicht eine Plakette sie bitten würde, die Privatsphäre der Stipendiaten im Haus des Schriftstellers zu respektieren. Ich bin eine dieser Stipendiatinnen, und noch bevor ich meinen Koffer auspacken kann, steht ein Mann im Garten und fotografiert durchs Fenster Bölls Schreibtisch, a ...

Dies ist die Begegnung mit einer Person, die in der öffentlichen Wahrnehmung von einer postnationalen Europa-Visionärin zur querdenkerischen Maßnahmenkritikerin und schließlich zur Putin-Versteherin geworden ist: Ulrike Guérot. Als soziales Phänomen ist eine solche Entwicklung eine Herausforderung für alle Beteiligten. Wem ihre Kritik an der Corona-Politik sauer aufstößt, fragt sich, ob er sich in ihr bereits als glühende Europa-Verteidigerin getäuscht hat. Und wer ihr applaudiert für ihre angriffsfreudigen Einlassungen gegen eine Impfpflicht, muss irgendwie mit ihren europapolitischen Überzeugungen klarkommen. Das sind wir nicht gewöhnt, denn aus Gründen der schnelleren Orientierung folgen wir der Faust regel, dass Proeuropäer Impfbefürworter, Lockdown- Kritiker hingegen Anhänger des ...

Es ist gerade viel von der Verweiblichung der Welt die Rede, von feministischer Außenpolitik und so weiter. Die zwei schwesterlichen Seelen in meiner Brust, Frau Holz und Fräulein Schlüter - beide, biologisch gesehen, zu den menstruiert habenden Personen gehörig -, finden das gut. Sie schätzen die Verweiblichung der Welt. Und zwar schon deshalb, weil die Vermännlichung der Welt uns in jenen Krisen strudel versetzt hat, in dem wir uns aktuell befinden. Womit theoretisch alles in bester Ordnung wäre: Frauen schätzen, was Frauen tun, und Männer schätzen Frauen, solange sie menstruieren, so circa jedenfalls. Das wiederum ist in den Kerlen einfach drin, d ...

Es ist einer der sieben guten Gründe, ins Kino zu gehen: Leichtigkeit. Filme, die sich um nichts scheren als die Freude an ihrem Spiel. Filme, die man behänderen Fußes und entspannteren Herzschlags verlässt, auf Wolkenschuhen womöglich. Ein Effekt, der leider nicht lang anhält. Rasch holt dich das Gewicht der Wirklichkeit wieder zurück. Aber er war da, dieser Moment. Nenne es meinethalben Glück.

A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe von Nicolette Krebitz ist so ein Film der Leichtigkeit. Dabei könnte man, wenn man nur die Geschichte wiedergibt, ein romantisierendes Sozialdrama voller Bedeutung, Botschaft und Bemühung erwarten: S ...

DIE ZEIT: Dmitri Gluchowski, wie erfuhren Sie davon, dass Sie verhaftet werden sollen?

Dmitri Gluchowski: Vor gut einer Woche tauchte die Polizei vor meiner Moskauer Wohnung auf und "wollte mich sprechen". Ich war jedoch im Ausland. Danach riefen sie meinen Vater an. Normalerweise wird man vorgewarnt, in meinem Fall gab es keine Warnung. Meine Anwältin erfuhr, dass die Anklage bereits vor einem Monat erhoben wurde. Ich war längst national und international zur Fahndung ausgeschrieben. Sie hatten alles vorbereitet und warteten einfach meine Rückkehr ab. Die Anwältin sagte: "Es sieht so aus, als könntest du nie wieder nach Russland zurückkommen."

ZEIT: W ...

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen": Als 29-jähriger Ukrainer, der mit europäischen und ins besondere deutschen Me dien kommuniziert, muss ich oft an diesen berühmten Satz von Helmut Schmidt denken. Er spiegelt die Essenz der Erfahrung einer ganzen politischen Generation wider, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs jung war, einer Erfahrung, die den Rahmen für die Wahrnehmung des jetzigen Krieges abgibt. Sie war traumatisch, und von der Überwindung dieser Traumata hängen der Fortgang und der Ausgang des Krieges in der Ukraine ab, der von Russland entfesselt worden ist.

Wenn das 20. Jahrhundert mit all seinen blutigen Schlachten, der Politik der ...

Gründungsverleger:Gerd Bucerius (1906-1995)

Herausgeberrat:Prof. Jutta Allmendinger, Dr. Nicola Leibinger- Kammüller, Zanny Minton Beddoes, Florian Illies, Dr. Josef JoffeEhemalige Herausgeber:Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002)Helmut Schmidt (1918-2015)

Vorsitzender der Chefredaktionen des Zeitverlags und Chefredakteur: Giovanni di LorenzoStellvertretende Chefredakteure: Moritz Müller-Wirth (Managing Editor),Sabine Rückert, Holger Stark, Bernd UlrichMitglieder der Chefredaktion:Malin Schulz, Tanja Stelzer, Jochen Wegner Chef/in vom Dienst: Iris Mainka (verantwortlich), Mark Spörrle

Chefreporter: Dr. Stefan Willeke

Textchef: Dr. Christof Siemes

Geschäftsführende Redakteure: Patrik Schwarz, Andreas Sentker

Internationaler Korrespondent: Matthias Naß

Leitender Redakteur: Hanns-Bruno Kammertöns

Redaktionsleiter Digitale Ausgaben: Götz Hamann

Parlamentarischer Korrespondent: Matthias Geis

Politik Hamburg/Berlin: Tina Hildebrandt/Dr. Heinrich Wefing (verantwortlich), Mark Schieritz (stellv.), Elisabeth Raether (Seite 3), A ...

Nicht lange her, da war der TGV noch so etwas wie das Symbol der französischen Meritokratie, wo alle nach ihrem Können den wohlverdienten Platz in der Gesellschaft einnehmen. Lässt man sich heute in die roten Stoffsessel fallen, fährt immer noch das Versprechen einer Wohlstandsgesellschaft mit. Doch betrachtet man die poli tischen Fliehkräfte nach rechts wie links, scheint es, als habe dieses Bild tiefe Risse bekommen, vor allem in den letzten Jahren. Das Linksbündnis um Jean-Luc Mélen chon (Nupes), dem Zentrum um Macron nun dicht auf den Fersen, sei die politische Heimat der Jungwähler, war viel zu lesen. Erneuert Nupes das alte Versprechen ...

Wir sitzen schon eine Weile im sonnigen Garten des Berliner Gorki Theaters, als David Bennent diese Sätze sagt: "Ich war ein kleines, nicht sehr gesundes Kind, ich hatte nicht diese Lebenskraft. Vor sechs Jahren spielte ich in einem Film über Euthanasie mit. Da wurde mir klar, dass ich diese Zeit, die Nazi-Zeit, ziemlich sicher nicht überlebt hätte. Ich hätte als unwertes Leben, als lebensuntüchtiger Schwächling ge golten." Denn Bennent, der heute 55 ist, kam mit einer Wachstumsstörung zur Welt - ein Umstand, der ihm als 14-Jährigem die Rolle des klein wüchsigen Oskar Matzerath in Volker Schlöndorffs Blechtrommel-Film (1979) einbrachte.

Wie lebt ...

Die Gedichte von Jürgen Becker beginnen schon, wenn man ihn anruft. Eigentlich möchte man nur einen Termin für einen Besuch bei ihm verabreden, aber sofort hört man all die Telefone in seinen Texten schrillen und denkt sich: Das könnte jetzt so ein Moment sein, in dem ein Gedicht von Jürgen Becker beginnt.

Denn seine Texte fangen immer irgend wo in der Mitte an, im Geschehen, bei einer Wahrnehmung, einem Sinneseindruck, beim Kleinen und Alltäglichen: "Ging das Telefon? / Ich sitze und rauche. Über Vieles wäre zu sprechen; / die Verwirrung ist groß, bei mir, bei dir, / bei anderen Leuten, im ...

Schwer, so verriet Uwe Tellkamp der Jungen Freiheit, schwer ist das Leben des Dissidenten. Sobald ein Schriftsteller in argloser Unbekümmertheit an den "Diskursschranken" des linken Meinungsmonopols rüttelt, drohen ihm "soziale Sanktionen" und manches Üble mehr. Ja, die Strafmaßnahmen sind hart. Der Sender 3sat rückte dem unterdrückten Autor mit einem Neunzig-Minuten-Porträt zu Leibe, und das Literarische Quartett präsentierte Tellkamps neuen Roman Der Schlaf in den Uhren im ZDF völlig ungeschützt Hunderttausenden Zuchauern. Die Feuilletons der Republik brachten unverschämt lange Rezensionen, überwiegend kritische (ZEIT Nr. 20/22). Böse Zungen sprechen schon von Tellkamp-Festspielen. Dabei steht das Werk des mundtot gemachten Autors in den ...

Eines Tages kauert sie in einem Hinterzimmer ihres Ministerbüros auf einer Liege, in eine Wolldecke gehüllt, die Bluse zerknittert, ihre Mitarbeiter suchen vergeblich nach ihr, die ersten Termine! Der Mann, der sie dann schlafend findet und behutsam weckt, ist der Vater ihrer beiden erwachsenen Kinder. Er ist frühmorgens ins Ministerium gekommen, um mit seiner geschiedenen Frau ein ernstes Wort über den Sohn zu sprechen: "Er will nicht enden wie du." Sie steht auf, glättet die Bluse, Jackett drüber, reckt den Kopf, tritt ins Büro, ihre Haltung friert ein, Kameras warten. Der Arbeitstag wird unerbittlich seinen Lauf nehmen. Termine, Termine. B ...

Der Nachmittag, an dem der Priester Christof May beschließt, dass der Tod die bessere Wahl für ihn ist als das Leben, ist grün und blühend. Es ist einer dieser Junitage, die einen glauben lassen, dass es stimmt, was die Kirche verheißt: Du darfst immer neu anfangen, du sollst hoffen trotz aller Verzweiflung, du findest Trost, auch wenn du dich schuldig gemacht hast.

Dieser Glaube kam abhanden am vergangenen Mittwoch auf dem Limburger Domberg. Dort steht, im Schatten der Basilika, auch das Bischofshaus: außen Fachwerk, innen kühles Konferenzhaus. Hier führte Christof May sein letztes Gespräch, mit dem Bischof Georg Bätzing und ...

Was habt ihr für ein Geschenk?", fragten wir die netten neuen Nachbarn, die anderntags zu einer Hochzeit fahren wollten. Was bringt man neuerdings mit als Gast, und worüber freuen sich Gastgeber derzeit, nach zweieinhalb Jahren Menschenabstinenz, Zoom-Konferenzen und gelegentlichem Small Talk hinter Masken über Masken?

"Drei digitale persönliche Grußnachrichten", sagten die Nachbarn. "Eine von der Hip-Hop-Legende Flavor Flav. Eine von Bootsy Collins. Und dann noch eine von einem Quokka."

Von einem was?

"Das ist so eine Art Känguru, angeblich das glücklichste Tier der Welt ... Kennt ihr denn die Cameo-App nicht? Da kann man all so was bestellen."

Die ...

Neulich wurde ich daran erinnert, dass im November eine Fußball-WM in Katar beginnen soll. Ich las, dass zu diesem Anlass eine berühmte Statue in Doha ausgestellt werden würde, ein Werk mit dem schönen Namen Coup de tête. Es zeigt den Moment, in dem der (metaphorisch) große Fußballer Ziné dine Zi dane den (wörtlich) großen Fußballer Marco Materazzi im Finale der WM 2006 per Kopfstoß gegen das Brustbein umhaute. Zi dane flog deswegen im letzten Spiel seiner Karriere mit Roter Karte vom Platz, Frankreich verlor, es war ein unsterblicher Sportmoment.

Dass die Statue jetzt in Katar gezeigt wird, ist auch deshalb interessant, weil sie ...

In einem georgischen Restaurant in Berlin-Schöneberg treffen sich vier Frauen. Wir wollen über ihre Ehemänner reden, die die Ukraine nicht verlassen durften. Wie geht es ihnen und ihren Männern? Und wie geht es nun weiter? Anna, 31, beschließt, noch bevor wir anfangen, dass es emotional zu viel ist, und setzt sich mit ihrer fünf Jahre alten Tochter an einen Nebentisch. Ihre Schwester Oksana Skoromna, 39, vor einigen Monaten noch Lehrerin an einer Schule in Kiew, bleibt dabei. Sie hat eine 17-jährige Tochter, alle zusammen sind sie in Leipzig untergekommen. Darina, 31, lebte mit Mann und zwei Söhnen in Tschernihiw im ...

An einem freundlichen Durchschnittsfreitag wache ich ganz undurchschnittlich in einer Parallelwelt auf. Die Sonne strahlt ungewohnt grell durch die hellen Schlafzimmervorhänge. Im Wohnzimmer steht eine Couch in Rent ner beige neben einem elektrischen Kamin, dessen Kunstglut sich heller und dunkler dimmen lässt. Ich besitze einen Brotkorb, der bekleidet ist, und zwar mit Stoff in violett-grünem Schot ten muster. An meinem Schlüsselbund baumelt ein Plüschtier, das ich keiner bekannten Spezies zuordnen kann. Ich wohne plötzlich in Schottland und betreibe dort in einem 1000-Einwohner-Ort einen Secondhand-Buchladen. Und ich liebe jetzt Hunde: "Doggies Wel come (we even have treats)", ist auf einem Schild an meiner Ladentür zu lesen, H ...

Bayern macht gerade eine schwere Phase durch: Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sitzt niemand aus dem Freistaat am Kabinettstisch in Berlin, Markus Söder hat das schwer getroffen. Denn Bayern ist schließlich das schönste Bundesland Europas. Mindestens. Eigentlich sollte das klar sein. Aber vielleicht muss man den Preußen das noch mal erklären. Also stellen wir von nun an in loser Folge prominente Bayerinnen und Bayern vor, die uns von den schönsten Ecken ihrer Heimat erzählen - dieses Mal Luise Kinseher, die "Mamma Bavaria".

Schön in Bayern sind ja nicht nur die Seen, die Berge, das Offensichtliche. Schön sind auch ...

Es ging los, als meine Tochter vier Jahre alt war. Auf einmal hörte ich überall Gespräche über die "Einzugsschule". In Berlin wird den Kindern die Grundschule vom Bezirk zugeteilt, nach Wohnort. Unsere Straße gehört zum Einzugsgebiet der besten Grundschule der Gegend - aber leider nur die Seite mit den ungeraden Zahlen. Unser Haus ist einer anderen Grundschule zugeordnet, einer, die seit Jahren auf zwei Standorte verteilt ist, weil das neue Schulgebäude einfach nicht fertig wird. Allein das störte mich schon. Unsere Nachbarin hatte ihren Sohn genau sechs Monate auf dieser Schule. In dieser Zeit wurde er gemobbt, bedroht und abgezockt.
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Auf dem Weg zur Arbeit die orange gekleideten Mitarbeiter der Müllabfuhr zu treffen, die man bei uns auch liebevoll als Karottenballett bezeichnet.

Karin Rauch, Wien

Brückentag. Ich habe viel Zeit, die ZEIT zu lesen. Nachdem ich mit "Was mein Leben reicher macht" durch bin, hole ich mir einen Kaffee und sehe aus dem Augenwinkel, wie sich draußen etwas Orange far be nes sehr schnell von links nach rechts bewegt. Ich schaue genauer hin: Es ist ein Mann von der Stadtreinigung, der das Wake board meiner Tochter entdeckt hat - und fröhlich durch unseren Hinterhof gleitet ...

Björn Kluge, Berlin

Ich habe eigentlich frei und bin aber ...

Von der Flugscham habe ich seit einiger Zeit nichts mehr gehört. Ein neuer Trend scheint die Zivildienst-Reue zu sein, es handelt sich dabei um eine Begleiterscheinung des Ukraine-Krieges. Prominentester Vertreter ist bisher Campino von den Toten Hosen. In einem Interview hat Campino gesagt: "Ich habe den Kriegsdienst 1983 verweigert. Das würde ich heute, unter diesen Umständen, wenn ich jetzt meinen Einberufungsbefehl bekäme, nicht mehr tun." In der linken Wochenzeitung Freitag schlägt der Autor Ralf Bönt in die gleiche Kerbe, er hatte allerdings den zweiten Königsweg zur Wehrdienstvermeidung gewählt, die Vorlage eines ärztlichen Attests. Bei ihm waren es sogar zwei ...

VON JüRGEN VON RUTENBERG

Samstagabend in Siparia, einer Stadt im Süden Trinidads: Der Parkplatz neben dem örtlichen Stadion hat sich kurz nach Sonnenuntergang in die Bühne einer Ansammlung tanzender Riesen verwandelt. Es ist heiß und laut, aus den Boxen eines bläulich erleuchteten Kleintransporters flattern spürbare Bassläufe, dazu hämmern gerade, schnelle Beats hinaus auf die Asphaltfläche. Zwei Dutzend junge Männer, alle drei bis vier Meter groß, tanzen ausgelassen in ihrer luftigen Höhe. Sie führen dabei akrobatische Bewegungen vor, die das Auge mit den Gesetzen der Schwerkraft nur schwer in Einklang bringen kann: Wenn die sich da oben in einer Art Limbo-Tanz rechtwinklig ...

VON NINA PAUER

Die Abfrage auf der Website klingt ein bisschen nach Einwohnermeldeamt. Pflichtfelder sind "Haarfarbe", "Augenfarbe", "Wohnort", ein Kreuz gehört hinter "männlich", "weiblich", "divers". Doch dann: "Reithosen sind sehr praktisch. Welche Farbe soll deine Hose haben?", "Musik an, die Party geht los, welches ist dein Lieblingslied?", und: "Auf unserem Hof gibt es viele Ponys. Welches hast du besonders lieb?"

Die zwei Pferdemädchen Bibi und Tina, das grunzende Schwein Peppa oder Disneys glorreiche Eisprinzessin Elsa - sie alle haben neuerdings etwas gemeinsam: Kinder dürfen jetzt bei ihren Abenteuern mitmachen. Ein paar Klicks, und schon können Eltern sie mithilfe einer ...