Inhaltsverzeichnis vom 12.05.2022

Es stimmt natürlich, dass man aus Niederlagen lernen kann. Allerdings gibt es auch Erfolge, die klüger machen, weil sie Widersprüche offenbaren und Schattenseiten aufdecken. So ist es zum Beispiel gerade bei den Grünen. In Schleswig-Holstein haben sie 18 Prozent geholt und die SPD auf den dritten Platz verdrängt. In NRW dürften sie trotz eines Zweikampfs um den Ministerpräsidentenposten zwischen zwei ihrer Konkurrenten ihr historisch bestes Ergebnis einfahren. Und in Berlin steht der grüne Dreizack, Habeck-Baerbock-Özdemir, seit Wochen an der Spitze der Beliebtheitsrankings. Die Krisen multiplizieren sich, die Unsicherheit greift um sich, und die Grünen steigen auf. Jedoch, und nun kommen ...

An manchen Tagen ist es einfach zu erkennen, wo Licht und wo Schatten ist. Der 9. Mai 2022 war so ein Tag. Während Wladimir Putin in Moskau eine Militärparade abnahm, um seine Macht zu demonstrieren, traten im Europaparlament in Straßburg europäische Bürger ans Mikrofon, um von ihrer Arbeit in der europäischen Zukunftskonferenz zu berichten. Während die Stiefel Tausender russischer Soldaten auf das Pflaster des Roten Platzes knallten, tanzten im Europaparlament junge Menschen. Während der düstere Herrscher Putin dem Westen drohte, entwarf Frankreichs quirliger Präsident Emmanuel Macron das Bild eines freudigen, lebenswerten und starken Europas.

Man kann das, was sich da ...

Die Zeiten, in denen sich Spitzenpolitiker im Wahlkampf auf einen Marktplatz stellen und einfach loslegen konnten, sind vorbei. Niemand tritt mehr ohne Personenschutz auf. Name, Anschrift, Personalausweisnummer muss hinter lassen, wer an diesem Montag in Bielefeld aus nächster Nähe hören will, was Robert Habeck und die grüne NRW-Spitzenkandidatin Mona Neubaur zu sagen haben. Nur ein kleiner Kreis von Ausgewählten hat dann Zugang zu einem abgetrennten und von Sicherheitsleuten abgeschirmten Areal. Man versteht sofort, warum.

Kaum hat Neubaur, eine couragiert auftretende Person in schwarzer Lederjacke, auf der Bühne den Mund aufgemacht, bricht ein ohrenbetäubender Lärm aus Trillerpfeifen, Vuvuzelas, Megafonen und Trommeln los ...

Neues aus der belebten Wirklichkeit

Was wäre eigentlich, wenn diese Nachrichten sich zu einer einzigen großen Nachricht zusammentun könnten? Alle Titelseiten wären voll damit, jeden Tag: Die globale Weizenernte, ohnehin in Gefahr, ist wegen Trockenheit jetzt auch noch in Frankreich bedroht; der Regenwald im Amazonas könnte den Punkt erreicht haben, an dem er nicht mehr so viel Wasser zu speichern vermag, wie er braucht, um nicht irgendwann zur Savanne zu werden; der regenarme März verlängert auch das Drama des deutschen Waldes; und nach neues ten Berechnungen wird die Atmosphäre die kritischen 1,5 Grad Erwärmung wohl schon in vier Jahren erreichen, a ...

MOSKAU

Haben Sie gewusst, dass die Nato die Atombombe von Hiroshima zündete, vier Jahre vor ihrer Gründung? Dass die Nato in Viet nam und Laos, in Panama und Grenada intervenierte? Und in Chile putschen ließ? Nein? Dann sollten Sie dringend die Ausstellung "Nato - Eine Chronik der Grausamkeit" besuchen, die kürzlich in Moskau eröffnet wurde.

Ins Museum für russische Zeitgeschichte nahe dem Puschkinplatz sind Kinder mit ihren Eltern gekommen, die gern ihr Wochenende vor Vitrinen und Stelltafeln verbringen. Schüler und Studenten, Veteranen, Besucher aus China und Afrika stehen um eine Panzerabwehrrakete aus westlichem Bestand herum. Russische Truppen sollen sie in der Ukraine ...

Fast jede Debatte erreicht irgendwann den Punkt, an dem nicht mehr über das "was" diskutiert wird, sondern nur noch über das "wie". An dem die Auseinandersetzung sich auf die Metaebene verlagert und dort ihre diskursiven Runden dreht. In der Debatte über den Krieg in der Ukraine scheint dieser Punkt erreicht zu sein. In offenen Briefen an den Bundeskanzler wird davor gewarnt, dass die Bewaffnung der Ukrainer in den dritten Weltkrieg führe (Alice Schwarzer) oder ebendiesen verhindere (Ralf Fücks). In der Talkshow von Maybrit Illner diskutierten die Teilnehmer neulich fast eine Stunde darüber, ob Olaf Scholz nun ein international isolierter Drückeberger ...

Dies ist ein schwieriger Text, schwierig in vielerlei Hinsicht. Es ist der Versuch einer Selbstbefragung, einer Rückschau auf unsere eigene Arbeit: Wie haben wir in den Medien, speziell bei den meinungsbildenden Zeitungen und vor allem auch bei der ZEIT, eigentlich in den letzten zehn Jahren auf Putin geschaut? Was haben unsere Reporterinnen, unsere Redakteure berichtet, was haben wir in den Leitartikeln geschrieben? Haben wir die Katastrophe des russischen Vernichtungskrieges in der Ukraine kommen sehen? Haben wir ausreichend vor der deutschen Abhängigkeit von russischem Gas gewarnt?

Um es klar zu sagen: Kritischer Journalismus heute hat nicht zur Voraussetzung, dass wir schon ...

Genosse Lenin ist zurück. In Stein gehauen oder in Bronze gegossen steht er wieder auf Plätzen in besetzten südukrainischen Städten, wo nun russische Fahnen wehen und russische Soldaten patrouillieren. Mit dem Gründer der Sowjetunion soll auch der Rubel zurückkommen, in der Stadt Cherson soll er wieder Zahlungsmittel werden. Verschwunden sind dafür ukrainische Internetanbieter, ukrainisches Fernsehen, ukrainische Schulbücher und ein Drittel der fast 300.000 Einwohner. Die meisten geflohen vor den Besatzern, einige Hundert - genaue Zahlen lassen sich nicht unabhängig recherchieren - von den neuen Herren entführt oder verhaftet.

Ihor Kolyschajew, 51, ist noch da. Seit 2020 ist der Unternehmer ...

In der langen und wechselhaften Geschichte der politischen Linken in Deutschland gibt es ein paar Heiligtümer, die gut behütet und andächtig bewundert werden. August Bebels Taschenuhr etwa, sie liegt in einem Keller der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Oder Joschka Fischers Turnschuhe, sie stehen im Deutschen Ledermuseum in Offenbach. Zu den zu Unrecht wenig beachteten Artefakten gehört das Gerät Side kick des US-amerikanischen Herstellers Danger. Das Side kick ist ein taschenrechnergroßes Handy. Es verfügt über einen Bildschirm, den man herausklappen kann, um dann auf einer Tastatur E-Mails zu schreiben. Und ohne das Side kick wäre das unwahrscheinlichste Projekt der bundesdeutschen Parteiengeschichte womöglich nie Wirklichkeit geworden: d ...

Man stellt sich Politik oft schillernd vor. Dabei kann die Kargheit eines Abgeordnetenbüros im Deutschen Bundestag erschütternd sein. Ein Abend im November 2021, in Berlin prügelt Wasser vom Himmel. Drinnen sitzt Jens Teutrine, ein junger Mann in Pulli und Jeans, in einer schwarzen Besprechungssofalandschaft und sagt: "Musste ich mich auch erst dran gewöhnen."

Fast könnte man meinen, man befinde sich in einer alten Kaserne. Aber es ist ein Gebäude im Zentrum der Macht. Eines, in dem der Bundestag größere Teile der FDP-Fraktion untergebracht hat. Elendig hohe Decken. Deutsche Büromöbeltristesse. Von diesem Haus aus könnte Jens Teutrine, 28, die Republik verändern. W ...

Wehrpflicht, allein das Wort ist ja schon von einer feldbettenhaften Härte. Menschen, die ein Jahr ihres Lebens an die Armee verschenken müssen: Das war wirklich mal normal? In einem aufgeklärten Land, in dem bereits das Tanzverbot an Karfreitag als unbotmäßiger Zwang gilt, haben wir Leute in die Armee gezwungen?

Jawohl, noch vor elf Jahren. Wer sie erlebt hat, die Wehrpflicht, wird bereits die Musterung nicht vergessen. Diese Begegnung mit einem tendenziell übergriffigen System, mit Ärzten vom Militär, die sich eine Spur zu genau interessierten: Kann dieser Kerl in einem Panzer sitzen? Die Erkenntnis, die man damals gewann, als sogenannter Wehrpflichtiger, l ...

POLITIK

Nordrhein-Westfalen Wie der Ukraine-Krieg den Wahlkampf in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland prägt VON MARIAM LAU 2

Ökologie Was bedeutet der Krieg für die Klimapolitik? VON BERND ULRICH 3

Propaganda Eine Moskauer Ausstellung arbeitet sich am Feindbild Nato ab VON MICHAEL THUMANN 4

Waffenlieferungen Deutschland unterstützt die Ukraine. Über den tatsächlichen Umfang der Lieferungen gibt es Streit. Wir haben nachgezählt VON MARK SCHIERITZ5

Journalismus Die deutsche Berichterstattung über Russland und die Ukraine vor dem Kriegsausbruch VON ANNA LEA JAKOBS UND HEINRICH WEFING 6

Cherson Leben in einer besetzten Stadt VON ANDREA BÖHM UND SIMONE BRUNNER 7

Parteien Die Linke hat sich aus Angst vor Spaltung zu Tode integriert ...

Dietrich Treis ist keiner dieser Menschen, die alles schwarz oder weiß sehen. Für ihn ist die Welt schwarz oder braun. Wobei schwarz besser ist, denn das bedeutet, dass im Boden viel Torf steckt. Und Torf macht den Boden fruchtbar.

Der Acker, an dem Treis an diesem Morgen Anfang April in seinem Wagen vorbeirollt, ist braun. Daran erkennt man zum einen, dass die Ernte hier im Umland von Passau in Niederbayern nie so gut sein wird wie auf einem schwarzen Acker. Und zum anderen, dass Treis nicht bei sich zu Hause ist, auf seinem Hof in der Ukraine, wo die schwarze ...

Die "diskursive Ertüchtigung" für einen "echten Austausch" zwischen Impfbefürwortern und Impf skep tikern las ich weitgehend zustimmend. Dann warf mich der letzte Satz aus der Bahn. "Diese diskursive Ertüchtigung braucht das Land ebenso wie eine medizinische Impfung", lese ich da. Es kommt mir vor, als widerriefe er alles zuvor Geschriebene. STEFAN MOES, HAMBURG

Was sollte denn bitte der letzte Satz, dass das Land die medizinische Impfung benötigt? Die Qualität dieses Artikels war für mich dahin. Leider vergaß ich, sofort mit 21-22-23 durch zu atmen. ULRICH NIEPENBERG, MARIENHEIDE

Schon beim ersten Lesen schimmert durch, dass es im Grunde gar nicht um einen Austausch geht, nicht um das ...

Seine hoch dotierten Posten bei Gazprom und anderen russischen Staatsunternehmen will Gerhard Schröder nach eigenem Bekunden nicht aufgeben, trotz des Krieges, den sein Freund Wladimir Putin befohlen hat. Des Krieges, in dem ukrainische Kinder, Frauen und Männer das Leben verlieren. Im Übrigen sterben natürlich auch russische junge Männer für die verschrobenen Ideen Putins vom neuen "Großreich Russland".

Die SPD sollte mit ihrem Altkanzler ins Gericht gehen und ihm als Erstes das Büro streichen. Daneben ist nunmehr ernsthaft über ein Parteiausschlussverfahren nachzudenken. Die Sozial demokraten müssen Gerhard Schröder seine Grenzen aufzeigen und den Worten Taten folgen lassen. Schröder schadet dem Ansehen Deutschlands ...

Binnen weniger Tage brannte die gesamte Tiefebene im Nordwesten der Karibikinsel. Die Flammen waren sogar von der Hafenstadt Cap-Français aus zu sehen; ein Einwohner schrieb, ihm habe sich noch nie ein so "entsetzlicher Anblick" geboten. Am Ende waren die Landgüter, die den feinsten Zucker der französischen Kolonie produzierten, verwüstet. Hunderte weiße Männer, Frauen und Kinder fanden den Tod, andere wurden von den aufständischen Sklaven gefangen genommen. Es war der Beginn einer Revolution, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Ihr Schauplatz war Frankreichs reichstes und ertragreichstes Überseegebiet im späten 18. Jahrhundert: die Kolonie Saint-Domingue auf Hispaniola, das spätere Haiti, d ...

DIE ZEIT: Ihnen ist am 23. Juni 1975 etwas passiert, was den wenigsten Anwälten geschieht: Sie wurden verhaftet und saßen knapp drei Wochen in Untersuchungshaft.

Hans-Christian Ströbele: Das kam unerwartet und hat mich sehr getroffen. Ich verteidigte an dem Tag im Kriminalgericht Moabit, in einem Mordprozess im Prostituiertenmilieu. In der Mittagspause traf ich einen Staatsanwalt und plauderte ein wenig mit ihm. Plötzlich hakten sich zwei Herren von links und rechts bei mir ein, zwei Polizisten in Zivil. Sie sagten: "Sie sind festgenommen." Der Staatsanwalt murmelte nur schnell: "Ja, das ist richtig", und machte sich aus dem Staube.

ZEIT: Was ...

Mit lautem "klong, klong, klong" wird am Donnerstag vergangener Woche ein Stahlkörper in den Meeresboden vor Wil helms haven gerammt, während die Besucher auf der Harle Kurier applaudieren. An Bord des Ausflugsdampfers sind keine Touristen, sondern Wirtschaftsvertreter, Journalisten und Politiker, darunter Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne). Die Rammschläge sind der Auftakt für den Bau eines schwimmenden Terminals vor der Küste. Bald soll dort verflüssigtes Erdgas - sogenanntes Liquified Natural Gas (LNG) - anlanden und Deutschland unabhängiger von Energie aus Russland machen. So plant es die Bundesregierung.

Doch diesen Plan könnte nun ein Tier durchkreuzen, ein Tier, für das auf der Harle ...

DIE ZEIT: Mehr als zwei Jahre Corona und jetzt der Krieg in der Ukraine. Wie sieht der Schadensbericht für die Gesundheit und Ernährung der Welt aus?

Melinda French Gates: Die Schäden sind erheblich. 31 Millionen Menschen sind zurück in die Armut gestoßen worden - nachdem die Armut zuvor 20 Jahre lang zurückgegangen war. Die Zahl der Kinderimpfungen hat abgenommen, und die Frage ist, ob das je wieder aufzuholen ist. 1,6 Mil liar den Kinder sind zeitweise nicht mehr in die Schule gegangen, und wir wissen von der Ebola-Krise, dass vor allem viele Mädchen dann auch nicht mehr zurückkehren. Dazu kommt der ...

Das passt doch nicht zusammen: Die Inflation in Deutschland hat Rekordhöhen erreicht, weshalb die Menschen sich zunehmend Sorgen machen, wie sie ihre Einkäufe und Nebenkostenabrechnung künftig noch bezahlen sollen. Gleichzeitig scheint der Staat im Geld zu schwimmen. Die Steuerschätzer prognostizieren ein Milliardenplus für die Jahre 2022 und 2023.

Es gibt für diese Gleichzeitigkeit natürlich Gründe. Einer ist, dass viele Menschen sich aktuell zwar um steigende Preise sorgen, aber eher selten um ihren Job. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist derzeit niedriger als erwartet. Das spült über die Einkommensteuer Geld in die Kasse des Staates.

Zweitens konsumieren die Deutschen aktuell viel. Nach ...

Die Kurse steigen so lange, bis sie fallen, heißt es an der Wall Street. Über Jahre schienen weder die Rückkehr der Inflation noch andere Krisen die Anleger wirklich zu beunruhigen. Doch nun hat sich die Stimmung gedreht. Die Investoren sind risikoscheu geworden - und es trifft ausgerechnet jene Firmen, deren Aktienkurse lange scheinbar nur aufwärtsklettern konnten: die Tech unternehmen.

An der Technologiebörse Nasdaq gibt es massive Verluste. Das dürfte einerseits schlicht eine Korrektur nach der Pandemie sein, während der alles Digitale für Begeisterung gesorgt hatte. Die Papiere des Facebook-Mutterkonzerns Meta etwa haben seit Anfang 2022 über 30 Prozent an Wert verloren. A ...

Das German Centre Shanghai steht im Osten der Stadt, 30.000 Quadratmeter Bürogebäude. Deutsche Mittelständler und einige Großkonzerne haben hier ihre Shanghaier Büros, aus unterschiedlichen Branchen, Maschinenbau, IT-Beratung, Pharmaindustrie. Das Gebäude gehört der BayernLB.

In normalen Zeiten begegnen sich die deutschen und chinesischen Mitarbeiter der Firmen hier auf den Fluren. Aber normal ist gerade nichts. Seit Ende März ist die Wirtschafts- und Handelsmetropole Shanghai im harten Lockdown, die Stadt abgeriegelt, die Bewohner sind in ihren Apartmentkomplexen eingeschlossen. 78 Prozent der europäischen Firmen gaben in einer Umfrage der EU-Handelskammer in China an, das Land sei wegen seiner strikten Null-Covid-Politik zu einem ...

Die merkwürdigste Baustelle Europas liegt am Bottnischen Meerbusen, zwischen Finnland und Schweden, in einer Ortschaft namens Pyhäjoki. An diesem nördlichsten Ausläufer der Ostsee hat der finnische Staat nämlich ein Atomkraftwerk in Auftrag gegeben, um sich von Energielieferungen aus Russland unabhängiger zu machen. Den Auftrag für den Bau bekamen: ausgerechnet Russen. Nämlich ein Firmenkonsortium um den staatlichen russischen Nuklearkonzern Rosatom.

Seither ist an diesem Küstenstück viel passiert: Baufirmen haben große Nadelwaldflächen entfernt, zweispurige Straßen gebaut, riesenhafte dunkelgraue Lagerhallen in die Höhe gezogen und 1800 identische Wohnungen für Arbeiter errichtet. Gleich an der Zufahrt zum Areal kann man bereits ein Betonmischwerk besichtigen, d ...

Leere Regale in einer Hamburger Metro-Filiale. Wo sich sonst Speiseöl, Frittierfett und Mehl türmen, baumeln nun angeklebte Zettel: Die "Ukraine-Krise" sei für den vorübergehenden Engpass verantwortlich, steht darauf. Es ist Ende April, und der Krieg, der hier "Krise" heißt, wird auch in Deutschland sichtbar.

Die aktuellen russischen Werbeprospekte der Metro vermitteln den Eindruck von Normalität. Viele westliche Markenprodukte sind offenbar lieferbar: Jacobs Instant-Kaffee, Süßes von Kitkat und Merci, Nesquik Knusper-Frühstück und Persil Color. Ritter-Sport-Schokolade ist gegenüber dem April um ein gutes Drittel teurer geworden und kostet jetzt 119 Rubel je Tafel, umgerechnet sind das etwa 1,70 Euro.

Die Metro ...

Lieber Herr Rabach,

langfristig Geld anzulegen ist eine feine Sache, aber in den ersten Jahren kann sich der Vermögensaufbau ziehen wie Kaugummi. Anfangs liegt ja noch keine beachtliche Summe im Depot und "arbeitet für einen", wie es immer so schön heißt. Das gilt selbst für so rentable Anlageformen wie Aktien: Zehn Prozent Rendite bedeuten bei einem 10.000-Euro-Depot einen Gewinn von 1000 Euro. Stecken dagegen bereits 200.000 Euro im Depot, springen satte 20.000 Euro Gewinn dabei heraus. Geld lässt sich also viel schneller vermehren, wenn schon Geld da ist.

Sie fragen nach der Abkürzung: Könnte nicht ein Kredit ...

Alle zwei Jahre bekommt Herr Mangelsdorf Besuch von einer neugierigen Frau. Sie fragt nach seinem Vermögen und der Zahl seiner Arztbesuche. Sie notiert die Größe seines Freundeskreises und die Qualität seines Schlafes. Mangelsdorf soll sagen, ob er Angst vor Demenz hat, wie viel Alkohol er trinkt und welchen Schulabschluss er für seine Kinder erhofft. Mangelsdorf antwortet auf jede Frage.

Manchmal gibt die Besucherin Mangelsdorf auch kleine Rätsel auf ("Ein Tennisschläger und ein Ball kosten zusammen 110 Euro. Wenn der Schläger 100 Euro mehr als der Ball kostet, wie teuer ist der Ball?"). Oder sie bringt ein Gerät mit, das ...

Erblichkeit

Der englische Ausdruck heritability ist präziser als das deutsche Wort: Er bezeichnet den Anteil an der Variation eines Merkmals in einer Bevölkerung, der durch genetische Unterschiede erklärbar ist. Hat eine Eigenschaft eine hohe Erblichkeit, liegt der Unterschied vor allem an genetischen Ursachen; ein Beispiel dafür ist in europäischen Bevölkerungen die Körpergröße (80 Prozent Erblichkeit). Bei Typ-2-Diabetes (30 Prozent Erblichkeit) ist die Umwelt entscheidender.

SNP

Alle Menschen haben grundsätzlich ein sehr ähnliches Genom. Es gibt im Erbgut der Menschheit jedoch viele Millionen Stellen, an denen unterschiedliche DNA-Bausteine stehen können - etwa entweder ein A(denosin) oder ein G(uanin). Diese "Single Nucleotide Polymorphisms" werden ...

... dann lesen Sie 4000 Jahre Wissenschaft von Patricia Fara, im Original: Science - A Four Thousand Year History. Denn die Wissenschaftsgeschichte der britischen Historikerin aus dem Jahr 2010 ist radikal anders: weder chronologisch sortiert noch an den Büsten der europäischen Forschung entlang erzählt. So begegnet uns ja Wissenschaftsgeschichte sonst meist, als Abfolge großer Entdeckungen großer Forscher (generisches Maskulinum!): Galilei, Newton, Einstein et cetera. Wichtig sind sie, klar, aber weder erschöpfend für das Menschheitsstreben nach Weltverstehen noch repräsentativ dafür.

Andererseits, wie wollte man sie schreiben, die Geschichte des Wissensdrangs, der Neugier, des Erkenntnisdursts der Menschheit und der Erfolge ...

DIE ZEIT: Frau Wagner, Sie arbeiten seit drei Jahren als Erzieherin in einer Kita der Arbeiterwohlfahrt im thüringischen Lauscha. Würden Sie sich noch mal für den Beruf entscheiden?

Anne Wagner: Immer wieder. Die Arbeit mit den Kindern macht mir Spaß und gibt mir so viel - daran würde ich festhalten, komme, was wolle.

ZEIT: Wie ist das bei Ihnen, Frau Hentze? Sie leiten die Abteilung Kinderschutz bei Fröbel, einem Träger mit rund 200 Kitas deutschlandweit.

Katrin Hentze: Wenn es um Kinderschutz geht, erschrecken sich viele erst mal und denken, dass ich da lauter schlimme Dinge erlebe. Aber ich sehe vor ...

Ein paar Wölkchen am Himmel, 19 Grad, an diesem Tag Ende April, auf San Servolo, der Insel in der Lagune von Venedig. Ein angenehmer Tag beim Symposion des Transregional Collaborative Research Center (TPR) 127. Weniger angenehm war das Thema der "Session 3". Das TPR hat sich der Xenotransplantation verschrieben, dem Verpflanzen von tierischen Geweben und Organen in Menschen. Um 14 Uhr würde der amerikanische Herzchirurg Muhammad Mohiuddin von der University of Maryland per Video über die erste Transplantation eines Schweine herzens in einen Menschen berichten. Der Fall ging um die Welt. Organempfänger David Bennett starb nach 61 Tagen. Zweifel kamen auf, o ...

Reimund Neugebauer ist einer der wichtigsten Manager Deutschlands. Ihm unter stehen mehr als 30.000 Mitarbeiter, er verwaltet ein jährliches Budget von 2,9 Milliarden Euro. Sein Projekt ist gewaltig: Er will, so formulierte es Neugebauer kürzlich in einem FAZ-Interview, die "Unversehrtheit unseres Landes" verteidigen.

Seine Aufgabe: Er muss dafür sorgen, dass schlaue Leute möglichst viele schlaue Dinge erfinden. Genauer, so steht es in der Satzung formuliert: "Die Fraunhofer-Gesellschaft verfolgt den Zweck, die angewandte Forschung zu fördern." Das gelang in der Vergangenheit manchmal spektakulär: Fraunhofer-Wissenschaftler erfanden das Dateiformat MP3, das zum Siegeszug von iPods und Audiodateien führte. Sie entwickelten auch ...

Corona hat in der Bildung einen Digitalisierungsschub regelrecht erzwungen. Fast über Nacht haben viele Lehrerinnen und Lehrer auf digitale Lehr- und Lernangebote umgestellt. Sie haben dabei oft Improvisationstalent und - für viele Außenstehende überraschend - ein hohes Maß an Technologieoffenheit bewiesen. Dieses Momentum müssen wir nutzen.

Denn trotz aller Offenheit sind die Herausforderungen geblieben - ja, sie haben sich sogar etwa bei der Chancengerechtigkeit verschärft. Lern erfolg ist heute noch stärker abhängig davon, aus welchem sozialen Umfeld man kommt und welche Möglichkeiten das Elternhaus bietet, welche Schule oder sogar welche Klasse man besucht. Das alles wird in der Summe, so ist ...

Dinosaurier gab es überall auf der Welt, sogar am eisigen Nordpol. Okay, vor 100 Millionen Jahren war es dort ein bisschen wärmer als heute. Im Sommer lag kein Schnee, es gab sogar dichte grüne Wälder. Im Winter blieb es aber auch damals schon vier Monate lang dunkel. Wie lebten Dinos in dieser Finsternis? Wie schafften sie es, im Dunkeln nicht ständig gegen Bäume zu laufen? Und was fraßen sie? Oder hielten sie einfach Winterschlaf?

Darüber wissen Forscher bisher wenig. Lange Zeit war nicht einmal bekannt, dass Dinos überhaupt so weit im Norden lebten - und zwar das ganze Jahr über. D ...

Beim Rauchen in Tallinn ist es ihr klar geworden. Sie hat einen Fehler gemacht: sie hätte diesen offenen Brief nicht unterschreiben dürfen. Diesen Brief an den Bundeskanzler, der in der Emma veröffentlicht wurde, in dem dringend vor einer Lieferung schwerer Waffen gewarnt wird und in dem auch all jenen eine Verantwortung für die Gefahr eines Atomkriegs zugewiesen wird, die Putin "sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern".

Katja Lange-Müller, 71, sitzt jetzt auf ihrem Balkon im Berliner Wedding, raucht eine Zigarette nach der anderen und sagt: "Ich unterschreibe jetzt gar keine Briefe mehr. Wenn ich was schreibe, d ...

Man wird während der Lektüre des neuen Romans von Uwe Tellkamp auf eine Weise zermürbt, dass man das Buch zunächst wieder weglegt, in das Bücherregal greift und im Turm herumliest, jenem großen Roman des Autors über die Achtzigerjahre der DDR, der 2008 für Furore sorgte, und das völlig zu Recht. Hier hatte jemand mit einer stilistischen Prägnanz, einer psychologischen Einsicht in seine Figuren, einem Bewusstsein für historische Krisen den verschollenen Osten in einer Weise wieder aufleben lassen, dass selbst der misstrauischste Leser nur erschlagen sein konnte vor Begeisterung. Man hat den Turm mit Thomas Manns Buddenbrooks verglichen, und das war ...

Probe in Oberammergau. Ein entscheidender Moment kündigt sich an. Das Kreuz, an dem Jesus, ge sichert durch einen Klettergurt, schon hängt, soll aufgerichtet werden. Da steigen plötzlich zwei Sanitäter in gelben Westen auf die Bühne und drängen sich durchs Theatervolk. Was ist geschehen? Im Szenenhintergrund stieg ein Pferd, das auf seinen Einsatz wartete, einem Schauspieler auf den Fuß. Der Unfall wird stoisch genommen. Auf der Bühne geht es eng zu, man muss sich in Acht nehmen. Hunderte Menschen plus allerhand Getier begleiten den Leidensweg des Gottessohnes - vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Durch einen profanen Huftritt lässt sich hier ...

Gründungsverleger:Gerd Bucerius (1906-1995)

Herausgeberrat:Prof. Jutta Allmendinger, Dr. Nicola Leibinger- Kammüller, Zanny Minton Beddoes, Florian Illies, Dr. Josef JoffeEhemalige Herausgeber:Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002)Helmut Schmidt (1918-2015)

Vorsitzender der Chefredaktionen des Zeitverlags und Chefredakteur: Giovanni di LorenzoStellvertretende Chefredakteure: Moritz Müller-Wirth (Managing Editor),Sabine Rückert, Holger Stark, Bernd UlrichMitglieder der Chefredaktion:Malin Schulz, Tanja Stelzer, Jochen Wegner Chef/in vom Dienst: Iris Mainka (verantwortlich), Mark Spörrle

Chefreporter: Dr. Stefan Willeke

Textchef: Dr. Christof Siemes

Geschäftsführende Redakteure: Patrik Schwarz, Andreas Sentker

Chefkorrespondentin: Tina Hildebrandt

Internationaler Korrespondent: Matthias Naß

Leitender Redakteur: Hanns-Bruno Kammertöns

Redaktionsleiter Digitale Ausgaben: Götz Hamann

Parlamentarischer Korrespondent: Matthias Geis

Politik Hamburg/Berlin: Marc Brost/Elisabeth Raether/Dr. Heinrich Wefing (verantwortlich), Andrea Böhm, Alice Bota, Peter ...

Das Internet ist außergewöhnlich dumm. Ge nauer: Die Architektur von sozialen Netzwerken belohnt die Menschen, wenn sie bereit sind, außer ge wöhn lich dumm zu tun. Alle sozialen Netzwerke funktionieren nach einer einfachen Logik von Zustimmung oder Ablehnung in Form von Likes. Wer da auf einmal mit Ambivalenz ankommt, wird eher untergehen. Das ist immer dann frustrierend, wenn etwas Komplexes in der echten Welt passiert, das dann irgendwie ins einfache Schema von Like und Dis like sozialer Netzwerke gepresst werden muss.

Johnny Depp, zum Beispiel, dieser wunderschöne Schauspieler, war verheiratet mit Amber Heard, dieser wunderschönen Schauspielerin. Nach nur knapp 15 Monaten ließen sie sich scheiden, s ...

Manchmal, wenn mein Trainer mich auf dem Platz verbessert, sagt er: "Bei den Männern spielen sie diesen Schlag dahin und nicht dorthin." Es treibt mich in den Wahnsinn. Wenn ich gut drauf bin, frage ich dann zurück, ob es daran liege, dass Männer intelligenter seien. Wenn ich schlecht drauf bin, zische ich ironisch, dass Männer die Welt regieren sollten. Es sind die einzigen Momente auf dem Patz, in denen wir uns in die Haare bekommen. Den Rest der Zeit und abseits des Platzes verstehen wir uns blendend. Er meint es nicht böse. Er denkt einfach nur, dass Männer überlegen ...

DIE ZEIT: Sie sind Ideenhistoriker und politischer Theoretiker, denken aber über Geld nach. Warum überlassen Sie dieses Thema nicht einfach den Ökonomen?

Stefan Eich: Die ökonomische Sichtweise auf Geld ist eine naheliegende, durchaus wichtige - aber sie ist nicht die einzige. Geld ist immer auch eine politische In sti tu tion, und mich interessiert gerade die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Dimensionen. Wenn etwa die Europäische Zentralbank gegenwärtig darüber nachdenkt, ob und wie schnell sie in diesem Jahr den Leitzins erhöhen will, entscheidet das nicht nur über Kurse auf Aktien- und Anleihenmärkten, sondern eben auch über die Verteilung von Einkommen und Vermögen - die ...

Trotz seiner überragenden Geistesgaben, von denen er selbst überzeugt gewesen ist, war Søren Kierkegaard die Politik ein zu schwieriges Geschäft, in das er sich nicht einmischen wollte. "Nein, Politik ist nicht meine Sache; in diesen Zeiten mit der Politik mitzukommen, auch nur mit der inneren, ist mir ge linde gesagt eine Unmöglichkeit", schrieb der dänische Philosoph im Revolutionsjahr 1848. "Mir dreht sich alles im Kopf, gewiss auch, weil ich zu wenig weiss ... Politik ist mir zuviel. Ich liebe es, meine Aufmerksamkeit auf das Geringe zu concentrieren, wo man bisweilen genau dasselbe beobachten kann."

Demokratietreuen Bürgern ergeht es normalerweise anders. Die ...

Dieser Film macht eigentlich alles verkehrt. Er ist ein sperriges Ungetüm, und lang ist er auch. Angeblich spielt seine Geschichte im Jahr 1928; doch plötzlich röhrt eine giftgrüne Kawasaki durch die Gegend, und ein Kite sur fer gleitet über den Wellen. Überhaupt liegt ein artifizieller Unernst über den Szenen, alles wirkt seltsam übertrieben. Und dann dies: Eine "Deppentruppe" zitiert eine berüchtigte Passage aus dem Kapital. Es sind jene Sätze, in denen Karl Marx den Kapitalismus als Vampir beschreibt. Man weiß, wie die Metapher später gelesen wurde: als Angriff auf die Juden. Und wie lautet der Titel des Films? Er lautet Blutsauger.

Julian ...

Der Bruch könnte krasser nicht sein. Draußen auf der Bülowstraße rauscht der Verkehr parallel zur Hochbahn vielspurig durch Schöneberg, um die Ecke wird man zu jeder Tageszeit mit dem wohl traurigsten Straßenstrich der Stadt konfrontiert, die echten Gangster und die Möchte gern gangster fahren in ihren hochglanzpolierten Autos vorbei, die Auspuffe brodeln und explodieren. Und dann öffnet sich elektrisch ein weißes Schiebetor in einer weißen Mauer, man tritt über eine Art Brücke in eine kleine Oase. Wasser plätschert, ein schilfbestandener Teich, dahinter Bambus meterhoch, eine Ente mit drei Küken gibt es hier auch. Es ist der Garten des neuen Kleinen Grosz Museums, d ...

Einmal springt ein Manager der großen Apothekenkette Walgreens aus seinem Auto. Er sprintet seinem Chef hinterher, muss ihn unbedingt von einem Deal überzeugen, bevor es zu spät ist. Es geht um die Zusammenarbeit mit einem Biotech-Start-up, über das gerade alle reden. Hier rennt die Angst davor, bald wertlos zu sein, dem Hochmut der neuen Milliardäre nach, das alte Geschäftsmodell den Disruptoren aus dem Silicon Valley. Die Szene ist ein Schlüsselmoment im Betrugsskandal um die Unternehmerin Elizabeth Holmes, von deren Aufstieg und Fall die Serie The Dropout erzählt - in Deutschland zu sehen auf Disney+.

Mit 19 Jahren, da hatte sie ...

Was Sie auf diesen Fotos sehen, ist schlimm, doch das Schlimmste gebe ich nicht an die Medien. Bei einigen der toten Soldaten war der halbe Körper oder der Kopf verbrannt - höchstwahrscheinlich starben sie im Artilleriefeuer. Dass es Russen sind, sah man an ihren Uniformen und Gürteln. In ihren Taschen waren noch Rubel, und bei einem wurde ein Ausweis mit dem Geburtsjahr gefunden: 2001. Elf Tote lagen in einer flachen Grube in einem Dorf bei Charkiw, ein Toter lag etwas entfernt. Es war der 9. Mai, und in Moskau feierten sie den Tag des Sieges über Hitler mit einer Militärparade. I ...

Kirill Serebrennikow, 52, war lange Zeit der prominenteste Dissident unter Russlands Künstlern. Der Regisseur stand in Moskau unter Hausarrest und inszenierte aus seiner Wohnung heraus, per Video, Theaterstücke und Opern für westliche Bühnen. Man hatte ihm die Veruntreuung von Fördergeldern vorgeworfen und eine Bewährungsstrafe über ihn verhängt - ein Vorwand, der das Ziel hatte, ihn und die ganze russische Kulturszene einzuschüchtern. Vor wenigen Wochen konnte Serebrennikow über Umwege seine Heimat doch verlassen - vermutlich für lange Zeit. Er zeigt sich entsetzt über die Verrohung und Kriegsbegeisterung seines Volkes. Bei den Filmfestspielen in Cannes, die am 17. Mai beginnen, wird sein ...

Kurz nach Ostern flog die Kunstwelt nach Venedig. Und wir reisten in den Kosovo. Um schon mal Ausschau zu halten nach der nächsten großen Biennale. Die Manifesta 14 wird im Juli in Prishtinë eröffnet, Hauptstadt der Republik Kosovo, und das passt zu ihrer 25-jährigen Geschichte, in der sie, die ewig wandernde Ausstellung, schon oft in der europäischen Peripherie zu Gast war. Als stets pro blem orien tierte Randständigkeitsbeauftragte der Biennalen-Welt. Eine Kunstausstellung will die Manifesta jedenfalls nur ein bisschen noch sein. Man definiert sich als "interdisziplinäre Plattform einer Co-Creation, die künstlerische Kreativität und soziales En gage ment für den sozialen, urbanen und kulturellen Wandel mit ein an der ...

Sänger wollte Florian Boesch eigentlich zuallerletzt werden. Die familiäre Vorbelastung, das Tamtam um die Stimme, die Reiserei und - für ihn wohl am gravierendsten - die Mauern der Tra di tion, gegen die man als einigermaßen wacher rebellischer Geist auf den Podien dieser Welt nach wie vor anrennen muss. Und dann ist er es doch geworden, Sänger, Stimmlage Bassbariton, Lieder- und Konzertsänger vor allem. Warum? "Das Singen war einfach zu mächtig", antwortet Boesch nach einer kurzen Pause. "In Wien würden wir sagen: Dös hob i mir ei′tret′n." Auf Hochdeutsch: Das habe ich mir eingetreten (wie einen Nagel). Später zitiert er Nikolaus ...

Das hätten sich die Macker, Baustellen-Pfeifer und Disco-Grapscher, die selbst ernannten "Pick-Up Artists" (Aufreiß-Künstler) dieser Welt wohl auch nicht gedacht, dass sie irgendwann mal wirklich zu Kunst werden würden. Oder zumindest ihre Gebärden, ihre Körpersprache. Die 36-jährige nordirische Choreografin und Tänzerin Oona Doherty, spätestens seit der Auszeichnung mit dem Silbernen Löwen bei der Tanzbiennale Venedig 2021 der rising star der Tanzwelt, arbeitet genau mit diesen Codes: Aus dem Baukasten hypermaskuliner Gesten (nicht nur) der Arbeiterklasse und Unterschicht, den Dominanz behauptenden, Revier absteckenden, plumpe Gewalt atmenden Moves der sozial Abgehängten, der Halbstarken, Misogynen und Hilflosen baut sie so komplexe wie eingängige ...

Und da hängt es plötzlich. Wie ein Tor zur Stille. So als habe jemand im Gebäude den Ton abgedreht, die Welt ausgeblendet. Wir befinden uns im Museum der Stadt Besançon am Rande des französischen Jura. Es ist das letzte Bild des Rundgangs, aufgehängt neben dem Durchlass, der wieder ins weitläufige historische Treppenhaus führt. Die Beschriftung des Gemäldes im Format 145 x 210 cm lautet: Auguste Pointelin, Hügel im Jura bei Einbruch der Nacht, 1881. Zu sehen ist eine sanft geschwungene, grasbewachsene Landschaft in Schattierungen von Grün und Gelb. Im Vordergrund moorige Wasserflecken, am Horizont zwei einsame Bäumchen. Darüber der weißgraue ...

Vor einigen Monaten probte Herr Luks für ein Silvesterkonzert. Und als die Stelle in Händels Feuerwerksmusik kam, wo sozusagen Raketen im Orchester abgeschossen werden und die Musik vor lauter Pracht und Pauken durch Mark und Bein geht, reckte ein gewisser Karel seinen Kopf und kommentierte das Getöse. Wuff! Er fühlte sich aufgerufen.

Karel ist der Foxterrier des Dirigenten Václav Luks, zu allen Proben darf er mit. Dort begrüßt er jede Sängerin und jeden Orchestermusiker vom Prager Collegium 1704 mit einem Nasenstupser, er ist Mitglied der Familie, Freudenspender und Zuneigungsempfänger. Wenn Karel seinen Kopf schräg hält, einmal bellt, weil Händels Feuerwerksmusik ...

Eigentlich kann das, was er macht, keine Kunst sein, schon gar keine große. Also auch kein Fall fürs Feuilleton.

Er liebt Entertainment und scheut vor Kommerz nicht zurück. Er choreografiert Modeschauen bei der Berliner Fashion Week, Tanzeinlagen in der Revue des Friedrichstadtpalasts und Videos des Popsängers Philipp Poisel. Er ist Botschafter seines Hauptsponsors und macht bei dessen Empfängen eine genauso gute Figur wie bei seinen Auftritten vor einem Massenpublikum. Wenn Ende Mai der Katholikentag in Stuttgart stattfindet, zeigt er, selbst praktizierender Katholik, auf einer Open-Air-Bühne seine Wunderbare Welt des Tanzes und animiert Tausende von Besuchern zum Mittanzen. Kann ein Gemüt, d ...

In den Sechzigerjahren entwickelte sich in Großbritannien eine Musikszene von kaum fassbarer Pracht: Das United Kingdom nahm es, was Extravaganz und Originalität anging, mit Amerika auf. Inmitten der Helden von der Insel, David Bowie, Eric Clapton, Ritchie Blackmore, David Gilmour, Robert Plant, Keith Emerson, Jeff Beck und all den anderen, betrat ein Mann die Bühne, der wie der Hofnarr eines versunkenen Königreichs wirkte: Ian Anderson, Kopf der Band Jethro Tull. Ein offenbar vom Veitstanz befallener Kauz, der die Angewohnheit hatte, auf einem Bein stehend Querflöte zu spielen, während er das Spielbein bis zur Leiste an seinen Rumpf zog. Unter Andersons ...

Oh, der Flügel als übertopftes Biotop, und davor, auf dem Stuhl, quer hockend sie, barfuß, Kaja Draksler. Das Bild, mit dem sie uns diesen Text schmückt, ist eine Überraschung, denn eigentlich neigt sie kaum zur Inszenierung ihrer selbst. Ob im Duo beim Berliner Jazzfest, im Trio im Kölner Stadtgarten oder mit einem anderen Trio in Saarbrücken auf dem Freejazzsaar-Festival: Sie trägt Schuhe, wenn sie auf die Bühne geht, und lenkt sofort alle Aufmerksamkeit auf das Unsichtbare.

Andererseits tut die 35-jährige Slowenin durchaus Dinge, die man von einer heraus ragenden Pianistin nicht erwartet. Sie überschüttet ihr Publikum nicht mit Noten; sie stellt ...

Es gibt unzählige Gruselgeschichten zu erzählen über die "schönste aller Künste", die Musik. Man muss dazu gar nicht weit in die Vergangenheit reisen oder über den Kanon und MeToo sprechen. Es reichen ein Besuch im Konzert und ein aufmerksamer Blick ins Orchester: Da schwingen Saiten aus den Därmen toter Tiere, es knallt Haut, die sich über hohle Holzkörper spannt, büschelweise wirbeln Haare von Lebewesen auf Bögen durch die Luft, dazwischen schimmert an Mundstücken das Schildpatt vom Panzer einst lebendig gekochter Schildkröten - und vieles davon hält ein Klebstoff zusammen, der aus aufgelösten Knochen besteht. Bravo! Das Orchesterpodium - ein veritables ...

Ich male für die Documenta", sagt der Junge, und aus seiner Stimme hört man den Stolz. Finlay ist elf Jahre alt, er sitzt auf dem Boden eines Mehrzweckraums seiner Grundschule am Barbarossaplatz in Berlin-Schöneberg und pinselt mit roter Farbe einen großen Panda auf eine braune Pappe. Sein Stolz ist berechtigt, er übertreibt nicht. Zusammen mit seiner Klasse 5a ist er Teil eines Projekts des indonesischen Kollektivs Taring Padi, und so wird man Finlays Malerei ab dem 18. Juni auf dem Friedrichsplatz in Kassel sehen, wenn dort wie alle fünf Jahre die wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst eröffnet. Mit rund 1000 ...

Detlef Sierck, Jahrgang 1897, ist ein Hin-und-her-Getriebener von früh an: Der Bürgersohn aus Hamburg, der als junger Mensch in der Kriegs mari ne den Ersten Weltkrieg erlebt, dann mit der Revolution und der Räterepublik in München sympathisiert, ein ziellos suchender Student und ein Künstler auf der Suche nach sich selbst. Politik? Malerei? Oder doch Literatur? Ein Theaterstück über die Geschichte der Räterepublik bleibt verschollen. Doch als junger Dramaturg, als Regisseur am Schauspielhaus in Hamburg und dann als Direktor des Alten Theaters Leipzig bis ins Jahr 1935 legt er eine bemerkenswerte Karriere hin. Ein Wunderkind, ein Multi talent, einer, der von allem fasziniert ist, w ...

Kürzlich war ich zum ersten Mal im Varieté, bei einem Auftritt des Ensembles Shen Yun am Potsdamer Platz. Zu sehen bekam das Publikum Tänze - mehr vermag ich mit Klarheit kaum zu berichten. Peter, ein zwischen den Nummern auf der Bühne erscheinender master of ceremonies, der immerzu lächelte und dabei doch immens ver zweifelt auszuschauen vermochte, erklärte uns, dass wir "den traditionellen chine sischen Tanz" dargeboten bekämen. Ich hatte schon diesbezüglich meine Zweifel. Weniger weil Shen Yun ein New Yorker Unternehmen ist, eher in Anbetracht der hochkomplexen Choreografien, der Salto springenden Tänzer und ballettartigen jetés der Tänzerinnen war mein Eindruck nicht gerade, d ...

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich habe eine Bitte an Sie: Sehen Sie sich den Menschen an, der neben Ihnen auf dem Sofa sitzt. Betrachten Sie ihn in aller Ruhe. Gehen Sie im Anschluss eine Runde um den Block, setzen Sie sich zurück aufs Sofa, und beantworten Sie dann folgende Frage:

Wie wäre mein Leben ohne diesen Menschen?

a) Besser

b) Schlechter

c) Weiß nicht

Wenn Ihre Antwort b) lautet, können Sie sitzen bleiben. Bei c) rate ich zu weiteren Runden um den Block. Aber falls Ihre ehrliche Antwort a) lautet, dann ist heute, jetzt, sofort der allerbeste Zeitpunkt, um vom Sofa aufzustehen und ...

Manchmal fragt sich Matthias Corssen, was er seinem 29-jährigen Ich raten würde, wenn er in die Vergangenheit reisen könnte. Welchen Hinweis er dem jungen Mann gäbe, der sich an einem Abend im Sommer 2004 in der niedersächsischen Gemeinde Ganderkesee in sein Auto setzt.

"Sei misstrauisch? Hinterfrage mehr?"

Der 21. Juni 2004 ist ein Montag, ungewöhnlich kühl. Alles, was Corssen über diesen Tag weiß, hat er nachträglich aus Protokollen und Gutachten erfahren. Er selbst hat keine Erinnerung mehr, da ist nur ein Schreckgefühl geblieben, das für ihn mit der Farbe Grün verbunden ist, "gefolgt von einem gleißend hellen Licht". Als Corssens ...