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Inhaltsverzeichnis vom 27.08.2020
DIE ZEIT
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Begrenztes Denken
Der Spoiler zuerst. Wenn kein Wunder geschieht, wird nichts aus dem Schwexit. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass eine deutliche Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer an der Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union festhalten will. Auch künftig soll der Markt und nicht der Staat entscheiden, wie viele EU-Ausländer in die Schweiz einwandern. Die SVP wird Ende September mit ihrer Begrenzungsinitiative scheitern.
Also alles paletti? Mitnichten.
Klar, eine neuerliche Niederlage der SVP, es wäre die dritte verlorene Volksinitiative in Folge, würde ihr Siegerpartei-Image weiter beschädigen. Die im Februar 2014 knapp angenommene Masseneinwanderungsinitiative wäre endgültig zum europapolitischen Freak-Event geschrumpft. Also zur Ausnahme, welche ...
Eine neue Città für das Tessin
Es wird eine halbherzige Eröffnung sein, am Freitag in einer Woche. Das Volksfest fällt aus, und auch die internationale Konferenz wird Corona-bedingt kleiner als geplant. Gleichwohl verändert die 15 Kilometer lange Betonröhre, die dann gefeiert wird, das Tessin funda- mental. Der neue Eisenbahntunnel durch den Monte Ceneri, südlich der Magadinoebene, verbindet die Städte Bellinzona, Locarno und Lugano und schafft im Süden der Schweiz eine neue Metropole.
Die Città Ticino, diese Bandstadt von Bellinzona bis Chiasso, ist ein Konglomerat von Städten und Gemeinden, deren Bewohner bisher kaum über die eigene Region hinaus gependelt sind. Nun aber werden sich die Fahrzeiten halbieren, u ...
3473
Bald ist es so weit: Die Mehlschwalben verlassen den Bauernhof der Familie Aebi in Richtung Afrika. "Es erfüllt mich jedes Mal mit Wehmut, wenn sie im Herbst wieder wegziehen", sagt Andreas Aebi. 150 Nistkästen haben Aebis in den vergangenen Jahren auf ihrem Hof montiert. Sind alle besetzt und bekommen die Eltern fleißig Nachwuchs, schwirren im Sommer rund 600 Schwalben zwischen den Stallungen und dem Wohnhaus umher. So viele, wie das idyllische Dorf Alchenstorf im Emmental Einwohner zählt.
"Ich habe einfach Freude an den Vögeln", sagt der 61-jährige Aebi. Er hat Alchenstorf vor einem Jahr zum ersten "Vogeldorf" der Schweiz erklärt. E ...
Nils Fischer arbeitet als Förster daran, den Wald in Hamburg für den Klimawandel stark zu machen - notfalls auch mit Kahlschlag und Neubepflanzung
Es war ein sonniger Frühlingstag, als Nils Fischer bemerkte, dass der Wald stirbt. Er lief durch den Klövensteen ganz im Westen von Hamburg, blickte auf den Boden und wunderte sich über die vielen Nadeln. Dann schaute er nach oben: Die rund 30 Meter hohen Fichten waren nur noch in der obersten Krone grün.
Drei Monate später steht Fischer, 47 Jahre alt, seit 17 Jahren Förster im Klövensteen, wieder unter den Fichten, die inzwischen gar keine Nadeln mehr haben. Er schüttelt den Kopf: "Mein Opa war Förster, mein Vater auch, ich bin im Wald groß geworden und habe vieles gesehen: Waldbrände, v ...
Lasst die Spiele beginnen
Besonders bitter muss der Moment gewesen sein, als die Akteure der Hamburger Kulturszene bemerkten, dass sie in der Not von anderen strauchelnden Unternehmen kaum zu unterscheiden sind. Hätte sich die Kunst nicht gerade in der Krise zu wahrer Größe aufschwingen können, um den Menschen Kraft und Weitblick zu schenken, das innere Chaos zu transformieren und der Realität andere Welten entgegenzusetzen? Fast alle Künstler und Kulturbetriebe schienen seit dem Ausbruch von Corona aber vollauf mit sich selbst beschäftigt: mit der rein betriebswirtschaftlichen Sorge, die laufenden Kosten nicht mehr decken zu können, weil ihr Standardprodukt gerade nicht herstellbar ist. Auch nach einem ...
Raues Leben
Im November 2014 war unser Redakteur Marc Widmann eine Nacht lang mit Zivilfahndern in
Billstedt unterwegs. Die Stadt hatte gerade eine Offensive gegen Einbrecher gestartet - und
die Truppe rund um "Oskar" wusste genau, nach wem sie Ausschau halten musste. Sie kannte viele
der jungen Männer im Stadtteil beim Namen, weil sie nebenbei oft so etwas wie Sozialarbeit
leistete. Die Pressestelle der Polizei wusste genau, warum sie Reporter gern nach Billstedt
vermittelte: weil es dort einen Blick ins echte, raue Leben gab - und Polizisten, die
professionell und vor allem menschlich waren. "Oskar" war der Dienstname des Chefs, in
Wirklichkeit ...
Endlich wieder Freizeitstress
Literatur in der ganzen Stadt
Von Kinderbuch bis Alsterkrimi, von Niendorf-Nord bis Wilhelmsburg, von Vorabend bis
Open
End:
Am 5. September laden rund 30 Buchhandlungen und Stadtteilbibliotheken zur
Langen Nacht der Literatur.
Und zwar - anders als bei der Theaternacht am
12. September, die ins Internet verlegt wird - mit echten Begegnungen in analogen Räumen. Um
18 Uhr liest
Benjamin Quaderer
in der Buchhandlung Christiansen in Ottensen
aus seinem Debüt
Für immer die Alpen.
Der Autor wurde von Kritikern als "Entdeckung"
gefeiert, doch sein Roman erschien im März, als die Buchläden geschlossen und viele Leserinnen
und Leser mit dem Kopf ...
Vor dem ersten Piks
Der ganze Tisch ist bedeckt mit Plastikröhrchen, die fein säuberlich in Reihen angeordnet sind. Jetzt darf nichts mehr durcheinandergeraten: In den Röhrchen sollen Blutproben von Menschen analysiert werden, die sich am Universitätsklinikum Eppendorf für eine lang erwartete Impfstudie des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) gemeldet haben. Die Freiwilligen müssen ganz gesund sein, um teilnehmen zu dürfen. Sobald die zuständigen Behörden ihre Genehmigung dafür erteilen, sollen sie den Piks bekommen.
Man könnte meinen, die DZIF-Forscher seien ein bisschen spät dran. Immerhin gibt es bereits zwei deutsche Impfstoffe, die an Menschen erprobt werden, seit April beziehungsweise Juni, einer davon wird schon im ...
Wenn ein Senator träumt
***
***
Der Senator hat es eilig, von sperrigen Fachbegriffen wie Megawatt und Gigawatt lässt sich Michael Westhagemann nicht aufhalten. "Bis 2025 brauche ich 500 Mega, perspektivisch ein Giga", so schätzt er den Bedarf an klimafreundlich hergestelltem Wasserstoff im Hafen ein. Aber der Satz kann wörtlich genommen werden: Michael Westhagemann, vormals Manager bei Siemens, jetzt Wirtschafts- und Innovationssenator in Hamburg, braucht diesen Wasserstoff auch für sich selbst. Wasserstoff ist die Zukunft des Klimaschutzes, eine ferne Zukunft, wie die meisten Experten meinen. Westhagemann sieht das anders. In Hamburg soll die Ära der Wasserstoffwirtschaft von morgen schon heute beginnen. "Dass ich das noch erlebe, i ...
"Das ist verflucht noch mal nicht einfach"
Ein großes Haus in einem kleinen Ort südlich von Hamburg, von der Terrasse fällt der
Blick auf eine Waldsenke. Hier wohnen Ivar und Dagmar Buterfas-Frankenthal, 87 und 86 Jahre
alt. Ende Juli feierten sie eiserne Hochzeit, auch der Bundespräsident gratulierte. Die ZEIT
hat die Eheleute hier zweimal zum Interview getroffen und insgesamt acht Stunden mit ihnen
gesprochen. Ivar Buterfas-Frankenthal sagt, sie seien nur im Doppelpack zu haben, er tue
nichts ohne seine Frau. Die meiste Zeit redet allerdings er. Das Ehepaar blickt zurück auf
sein Leben und auf eine Begegnung, die beide gerade sehr aufwühlt.
Ivar Buterfas-Frankenthal:
Letzten Dezember ...
Nur mal kurz den HSV retten
Am 18. September startet die neue Zweitligasaison mit einem Spitzenspiel: Der Hamburger SV tritt gegen Fortuna Düsseldorf an. Für den HSV beginnt damit der dritte Versuch, in die Bundesliga aufzusteigen. Aber diesmal ist es nicht die sportliche Lage, die in den kommenden Monaten zur größten Herausforderung wird. Das gravierende Problem liegt jenseits des Rasens: Wie übersteht der Verein die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg?
Wäre nicht die Pandemie, hätte der HSV das abgelaufene Geschäftsjahr erstmals seit mehr als zehn Jahren mit einem kleinen Gewinn abgeschlossen. In den vergangenen zwei Jahren haben die Bosse im Volksparkstadion vieles dafür getan, um ...
Warum sind Krabbenbrötchen so teuer?
Krabbenbrötchen sind aus. Brathering wäre noch da oder Matjes. Aber wer will das schon? Die bescheren ja nicht dieses Ich-esse-Krabben-und-bin-an-der-Nordsee-Gefühl. "Kommen Sie morgen wieder, vor 11 Uhr", sagt die Frau in der Fischbude. Sie klingt gereizt, als müsse sie öfter Leute enttäuschen. Was das Krabbenbrötchen denn koste? "11 Euro", sagt die Verkäuferin und reagiert auf den erstaunten Blick. "Wir pulen die Krabben jetzt selbst, deshalb."
Engpässe wie an dieser Bude in Cuxhaven gibt es nun häufiger an der Nordsee. Überall fehlen Krabben. Das liegt an Corona, an fehlenden Pulerinnen in Marokko, an zwei Händlern aus den Niederlanden und dem Krabben-Superjahr ...
Die Bauers und die Nazis
Seine Familie wartete in Montalto in der Provinz Imperia auf ihn, aber Emilio Bova kehrte niemals heim. Am 23. Juni 1944 um halb elf Uhr am Vormittag wurde er mit einem Schädelbruch in das Krankenhaus St. Georg in Hamburg eingeliefert. Es ging ihm sehr schlecht, Bova hatte monatelang hart für die Deutschen geschuftet. Er gehörte zum Kriegsgefangenen-Arbeitskommando 1577, untergebracht im Heinrich Bauer Haus am Meßberghof, wo bis heute die Zentrale des Familienverlages liegt.
In der Klinik verstarb Emilio Bova schon bald, mit gerade einmal zwanzig Jahren. Am nächsten Tag wurde er auf dem Friedhof Ohlsdorf bestattet. Sein Grab liegt in ...
"Rothenburgsort ist an der Reihe"
Noch wächst ungestört das Unkraut an der ehemaligen Reichsmonopolverwaltung für Branntwein, wie das Areal offiziell heißt. Es liegt am Billwerder Deich in Rothenburgsort und trägt diesen schillernden Namen, weil hier zu Zeiten der Weimarer Republik eine Behörde dafür sorgte, dass die Bevölkerung sich möglichst nur an ungepanschten Alkoholika erfreute. Alle Brennereien aus Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein mussten ihren Alkohol in dem Gebäude abliefern, von dort wurde er an die Getränkeindustrie weiterverkauft. Seit 2016 liegt das Gelände brach. Wer mit dem Fahrrad hinter den Elbbrücken in Richtung Entenwerder entlangradelt, sieht die mit Graffiti besprühte Lagerhalle hinter Mauern und Nato-Draht hervorlugen. Rund ...
Lust auf vegan? Ab zu den Fleischessern
Kulturschock neulich beim Bestellen in einem beliebten veganen Lokal. Der Gast möchte eine Schale von der Nudelsuppe Szechuan-Art. Gast: "Was verwendet ihr anstelle der üblichen Fleischbrühe?" Chefin, verwundert: "Keine Brühe. Wir nehmen das Nudelwasser." Daran gemessen, schmeckt die Suppe dann noch sehr passabel. Aber man ahnt, warum jedes zweite Gericht hier scharf ist: Eine tüchtige Dosis Chili täuscht über manches hinweg.
Kann es sein, dass Hamburg wieder mal einen Speisetrend verschläft? Veganes Essen ist in vieler Munde. Vegane Küche hingegen belanglos. Es gab mal das Leaf in Ottensen, wo Corinna Krampe vormachte, wie viele Ideen Verzicht freisetzen kann. V ...
Nur mit Tricks?
Kann Donald Trump die Präsidentschaftswahl gegen den in den Umfragen führenden Joe Biden, den Kandidaten der Demokraten, nur noch mit Tricks gewinnen? Indem er zum Beispiel die Post lahmlegt und damit die Briefwahl gefährdet? Indem er ganz generell die Legitimität der Wahl anzweifelt, wie gerade erst wieder auf dem Parteitag der Republikaner? Aber muss er das, tricksen? Kann Trump nicht, wie schon 2016, erfolgreich die Widersprüche ausnutzen, die sich zwischen den liberalen Ansprüchen seiner Gegner und der Wirklichkeit auftun?
Zum Beispiel beim Thema Sicherheit. Nach dem Tod von George Floyd bei dessen Festnahme im Mai in Minneapolis erhob sich ein ...
Schaut weiter hin
Auch jene, die bis eben nicht wussten, warum Weißrussland nicht mehr so heißt, wo das Land liegt und wer Alexander Lukaschenko ist, haben sich von den Bildern aus Belarus mitreißen lassen. Sind beeindruckt von friedlichen Protesten, die nicht aufhören; von den Geschichten über Polizisten, die kündigen, weil sie nicht länger ihr Volk niederknüppeln wollen. Von den Frauen, die in weißen Kleidern protestieren und Spezialeinsatzkräfte umarmen. Von den Arbeitern in den Staatsbetrieben, die aus Protest gegen die Gewalt streiken. Von den Freiwilligen, die Geld spenden, um Opfern von Folter und Repression zu helfen.
Von der Unermüdlichkeit, mit der die Belarussen wieder ...
"Natürlich bin ich privilegiert"
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DIE ZEIT:
Greta, Sie haben zusammen mit drei anderen Aktivistinnen Angela Merkel getroffen, die alles Wesentliche über die Klimakrise weiß. Dennoch handelt sie Ihrer Meinung nach nicht entsprechend. Was denken Sie, warum?
Greta Thunberg:
Weil jeder jeden verantwortlich macht bei diesem Thema, bis dann niemand mehr irgendwas machen kann. Dabei hat sie eine enorme Verantwortung, die sie auch wirklich wahrnehmen sollte. Ganz offensichtlich braucht Angela Merkel die Unterstützung der Bevölkerung, sie braucht politischen Druck, sonst wird sie keine unbequemen Entscheidungen treffen. Genug Druck bekommen Politiker weltweit aber deshalb nicht, weil wir uns die Klimakrise zu wenig bewusst machen. D ...
Warum immer Gift?
Moskau
Alexej Nawalny ist anders als viele Oppositionspolitiker aus Russland, die im Westen gern hofiert werden. Er gibt sich furchtlos, arrogant, nationalistisch und bleibt politisch gezielt vage, um für möglichst viele Russen annehmbar zu sein. Zu Beginn seiner Karriere war er linksliberal, aber 2007 warf ihn die Partei Jabloko raus. Danach begann sein politischer Erfolg.
Nawalny wirft dem Westen Heuchelei vor, weil dieser helfe, das schmutzige Geld von Wladimir Putins Komplizen zu waschen. In seinem Wahlprogramm spielt Außenpolitik sonst so gut wie keine Rolle - ihm geht es um Innenpolitik, vor allem um die Korruption im Lande. Nawalny will nicht weniger ...
Jetzt mal ehrlich
Wir wären gern ehrlicher gewesen in diesem Text, nur: So leicht ist das nicht. Wir werden Sie manchmal abspeisen müssen mit Andeutungen, wir werden viel auslassen von dem, was wir wissen. Es ist im Journalismus durchaus möglich, vollständig ehrlich zu sein, also alles aufzuschreiben, was man weiß. Nur ist es eben auch rücksichtslos. Denn wer über die Lüge spricht, macht sich angreifbar. Und diejenigen, die es trotzdem wagen, tun das nur im Vertrauen. Ohne Namen, ohne Parteizugehörigkeit.
Da sitzt also zum Beispiel ein ehemals hochrangiger Minister (so viel darf man sagen, ohne dass Sie ahnen, wer er ist) auf der ...
Marokkos Probleme mit der Pressefreiheit
Nach außen präsentiert sich das Königreich Marokko als entspanntes Urlaubsland. Die Regierung scheint Reformen zu wollen, doch Meinungsfreiheit gibt es nur in eng begrenztem Umfang. Erst recht, wenn es um bedeutende Geschäfte geht, in die fast immer auch das Königshaus und die engsten Vertrauten des Monarchen Mohammed VI. verwickelt sind. Der König ist der wichtigste Unternehmer des Landes.
Der Journalist Omar Radi bekam die Grenzen der Meinungsfreiheit zu spüren. Er schrieb über die Enteignung und Vertreibung der Ärmsten, die Golfplätzen und Shoppingmalls weichen mussten, und über Jugendproteste gegen die Vetternwirtschaft. Jetzt wirft ihm der Staat Spionage vor. Radis Unterstützer bezeichnen ...
In Mali hat das Militär geputscht
Als malische Soldaten vergangene Woche ihre Regierung stürzten, forderte Außenminister Heiko Maas sofort "die Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung". So wie zahlreiche Amtskollegen. Die UN verurteilten den Coup, der westafrikanische Staatenverbund Ecowas verhängte Sanktionen. Ein Militärputsch ist zu ächten - das gilt inzwischen als international anerkanntes Prinzip. Eigentlich ein Fortschritt.
Nur fragen sich die meisten Malier, so sie Maas′ Appell denn gehört haben, wovon dieser deutsche Politiker spricht. Eine "verfassungsmäßige Ordnung" herrscht schon lange nicht mehr.
Mali ist seit Jahren auf dem Weg zum "gescheiterten Staat". Den nun gestürzten Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta, auch IBK genannt, hatten die Malier deshalb schon ...
Wann wird man je verstehn?
Vor 65 Jahren schrieb der amerikanische Folksänger Pete Seeger das Antikriegslied
Where Have All the Flowers Gone,
das in der von Marlene Dietrich gesungenen Version "Sag mir, wo die Blumen sind" populär wurde. Der Text handelt vom ewigen Kreislauf, in dem die Liebe auf den Krieg folgt und der Krieg wieder auf die Liebe. Der Refrain fragt nach jeder Strophe zweimal
"When will they ever learn?".
In der deutschen Fassung:
"Wann wird man je verstehn?"
Das fragt man sich ja des Öfteren. Zweifel sind berechtigt, ob die Menschen wohl jemals aus Schaden klug werden, denn Menschen ...
Was soll das heißen?
Aus Worten werden Bilder, aus Bildern werden Gedanken, und aus Gedanken werden Taten -
oder Gesetze. Aber reden die Deutschen seit Ausbruch des Coronavirus über dieselbe Bedrohung
und dieselben Folgen? Konstruktiver Streit und Lösungssuche beginnen mit der Einigung über
die Wirklichkeit. Welchen Kernbegriffen der Debatte wohnt, womöglich ungewollt, eine
Suggestionskraft inne? Wir schauen uns die wichtigsten etwas genauer an.
Lockdown
Nun ist schon von einem neuen die Rede, ohne dass in der ersten Runde der Begriff unter die Lupe genommen worden wäre. "Droht uns ein zweiter Lockdown?", fragte die
FAZ
Anfang der Woche. Noch ein "Lockdown", das würde eine Katastrophe, w ...
Aggressive Mimosen
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Vermutlich neigte der Mensch schon immer dazu, schneller selbst beleidigt zu sein, als einzusehen, dass auch er andere Menschen beleidigt. In den vergangenen Jahren ist jedoch eine Subspezies schnell beleidigter Schnellbeleidiger herangewachsen, die unseren politischen und kulturellen Raum, unser gesellschaftliches Miteinander zunehmend vergiftet. Nennen wir sie die "aggressive Mimose".
Exemplare der rechten Spielart explodieren zuverlässig, sobald sie irgendwo ein Gendersternchen entdecken, das Wort "Polizeigewalt" hören oder von Plänen, koloniallastige Straßennamen zu ändern. Je nach Aggressions- und Gesamtniveau wird dann höhnisch gejohlt, "linksgrün versifft" gebrüllt, werden Hasstweets abgesetzt, Morddrohungen verschickt. Und wenn alle Vernunft, alle Menschlichkeit und aller Anstand totkrakeelt sind, w ...
60 Zeilen ... Liebe
Eine umgedrehte Lichtgestalt sei er jetzt, dieser Hansi Flick, einer, der andere leuchten lasse. Das meint zumindest die
Süddeutsche Zeitung
. Was man halt so schreibt, wenn ein bis dato kaum bekannter Fußball-Trainer in 35 Spielen Triple-Sieger wird und auf dem Weg zu Schale, Pokal und Henkelpott nichts verliert. Nicht einmal das "i" am Ende seines Vornamens. Hansi im Glück.
Ein echter Schattenmann, um im Bild zu bleiben, ist nun wohl Niko Kovaè, der Bayern-Trainer, der erst gefeuert werden musste, damit Triple und umgedrehte Lichtgestalten möglich werden konnten. Kovaè trainiert nun mit dem AS Monaco einen Verein, der schon in ...
Inhalt
Politik
Fridays for Future Vor zwei Jahren löste eine schwedische Schülerin weltweite Klimaproteste aus. Wo steht die Bewegung heute? Greta Thunberg im Gespräch mit Bernd Ulrich
2
Russland Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde offenbar vergiftet und kämpft in der Berliner Charité um sein Leben Von Alice Bota und Julia Smirnova A 3
Titelthema: Der Sog der Lüge Jetzt mal ehrlich: Wird in der Politik tatsächlich so viel gelogen, wie viele denken? von Hannah Knuth und Anna Mayr4
Boomer Wer nur nach Revolution ruft, wird nichts bewirken im Kampf gegen die Klimakrise. Eine Erwiderung VON ARMIN NASSEHI 5
Mali Das Militär hat geputscht. Warum feiert die ...
Arbeitslos zu sein schafft Bewusstsein
Anna Mayr schreibt über die Arbeitslosen: "Das Wirtschaftssystem braucht sie." Sie hat damit nur teilweise recht, denn es ist ja gerade der Mangel an Arbeitskräften (und nicht hohe Arbeitslosigkeit), welcher Innovationen und damit Konkurrenzfähigkeit fördert.
Jedoch verdient das "Nichtstun" und damit auch Arbeitslosigkeit durchaus positive Wertung. Denn um weltweite Vollbeschäftigung zu gewährleisten, wird ein Ausmaß an Wirtschaftswachstum benötigt, das ökologisch nicht vertretbar ist. Es ist es daher nötig, sich grundsätzliche Gedanken über die Arbeit zu machen. Diese versorgt uns mit Produkten und Leistungen und verschafft uns Einkommen. Die umweltfreundliche Entkopplung der beiden Funktionen von der Arbeit ginge in Richtung ...
Klappe halten, Maske tragen
Der wichtigste Absatz Ihres Artikels ist der, in dem es um die Frage einer konkreten Schutzwirkung von Masken geht, und zwar die Schutzwirkung "für den Maskenträger selbst" - allerdings leider ohne eine Antwort auf diese Frage zu geben. Das wäre aber für das Thema entscheidend gewesen; denn erst wenn der Selbstschutz dank bestimmter Maskentypen gelingt, werden diese auch verlässlich getragen - mit dem dann automatischen zusätzlichen Effekt eines Fremdschutzes.
Überhaupt nicht einleuchten will mir, warum es bisher nicht möglich war, den Fremd- und/oder Eigenschutz bei Masken exakt zu quantifizieren.
Vielleicht sollte sich die Stiftung Warentest einmal mit dieser Frage befassen.
...
Der Beethoven des Jazz
Ein kleines Holzhaus in einer afroamerikanisch geprägten Nachbarschaft von Kansas City, die Straßen ohne Pflaster, staubig im Sommer, in der feuchten Jahreszeit watet man durch Schlamm. Hier bringt am 29. August 1920 Adelaide B. Boxley Parker ihr erstes und einziges Kind zur Welt: Charles Parker junior, der in seinem 34 Jahre langen Leben den Jazz revolutionieren und am Altsaxofon alle anderen Virtuosen überstrahlen wird.
Über Parker, dem man später den Namen "Yardbird", oder kurz: "Bird", gegeben hat, werden viele Geschichten erzählt - gesichert sind davon nur wenige. Auf eigentümliche Weise ist er als Person - im Unterschied zu Louis Armstrong, D ...
Warum starb sein Sohn?
Im Norden der Stadt Halle, gegenüber vom Zoo, stehen zwei Häuser. Da ist eine verwilderte Villa, umgeben von einer Mauer, darauf das Graffito: "AfD auflösen". Und da ist das Gebäude in der Reilstraße 76. Eine Hauswand ist von unten bis oben bemalt, das Bild zeigt Frauen mit Sturmhauben, darüber der Satz:
"Capitalism is killing our future".
An einem Sonntagmorgen vor zwei Jahren stehen die Bewohner der Reilstraße 76 draußen vor der Tür. Ein Rettungswagen ist da, die Polizei auch. Neben dem Haus, auf der Terrasse, liegt ein toter Mann. Er hat Schnittwunden an den Handinnenflächen, sein Hinterkopf ist zertrümmert. S ...
Ohne Kampf kein Mampf
Essen, so könnte man meinen, sei eine genussvolle Angelegenheit. Eine sinnliche Sache. In der Welt von Niklas Östberg ist das anders. Wenn der Vorstandschef von Delivery Hero sein Geschäft beschreibt, dann spricht er von den "Segmenten" (den Ländern, in denen seine Lieferplattform aktiv ist), dem "Kundenerlebnis" oder dem "riesigen Potenzial", das seine Branche besitze. Klar möge er Essen, sagt Östberg, mal koche er selbst oder gehe ins Restaurant, dann wieder lasse er den Lieferservice zu sich nach Hause in Zürich kommen, wo er mit seiner Familie lebt. Ein Gourmet klingt anders.
Mit viel Kalkül und eher wenig Leidenschaft fürs Essen ...
Sollten wir nur vier Tage arbeiten?
Wissen Sie, wie lange ein deutscher Fabrikarbeiter im Jahr 1870 gearbeitet hat? Es waren im Schnitt 67,6 Stunden in der Woche. Das entspricht mehr als neun Stunden täglich - und zwar von Montag bis Sonntag. Im Jahr 1870 gab es kein Fernsehen, kein Internet, kein Penicillin, das Auto war noch nicht erfunden, und in den Städten hausten die Menschen in engen Wohnungen ohne Strom und fließendes Wasser.
Heute liegt die Arbeitszeit eines Vollzeiterwerbstätigen durchschnittlich bei 41 Stunden. Und siehe da: Es gibt Fernsehen, Internet, Penicillin, Strom, fließendes Wasser und mehr Autos, als der Planet verkraften kann. Was das Beispiel ...
Irgendwie offen bleiben
Um zu erfahren, wie es Deutschland so geht, schauen Regierungspolitiker derzeit nicht mehr als Erstes auf Umfragen oder in ihre Wahlkreise, sondern auf das Covid-19-Dashboard des Robert Koch-Instituts (RKI) - eine Deutschlandkarte, auf der die gemeldeten Fälle verzeichnet sind. Vor einigen Wochen gab es auf der Karte noch viele weiße Flecken, also coronafreie Landkreise. Inzwischen ist fast alles dunkel eingefärbt.
"Die Lage ist ernst. Nehmen Sie sie ernst", mit diesen Worten hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Frühjahr über die steigenden Infektionszahlen gesprochen. Inzwischen ähneln die Zahlen wieder denen von damals. Am jüngsten Wochenende wurden erstmals wieder mehr als 2000 Menschen ...
Weniger ist schwer
Also: Was ist jetzt mit der Wende zum Weniger, mit dieser bewussten Abkehr vom Wachstum, diesem Gesundschrumpfen? Wäre es sinnvoll als Antwort auf den Klimawandel und die schnelle Abfolge kapitalistischer Krisen? Und ist Corona ein Anstoß dafür, weil Menschen sich in der Pandemie vom Konsumismus abwenden und fortan eine nachhaltigere Lebensweise bevorzugen?
In dieser Serie haben wir einiges versucht, um Antworten zu finden. Haben sieben bekannte Ökonominnen und Ökonomen gefragt, wie man die Wende vollzieht - wobei die Mehrheit skeptisch war und lieber ein nachhaltiges Wachstum als gar keines anstrebte. Auch die Bundesbürger gaben der Idee, künftig nicht mehr so ...
Falsch geblinzelt
Der Avatar ist neugierig. "Besitzen Sie ein Visum für den Schengenraum?", will er wissen. Nach einem hörbaren "Ja" oder "Nein" fragt er weiter: "Was ist das erste Zielland Ihrer Reise?" Und: "Wurden Sie schon einmal aus dem Schengenraum ausgewiesen?" Oder: "Wer bezahlt für Ihre Reise und Ihren Aufenthalt?"
Der Avatar ist eine computeranimierte Figur, die mit ihrer blauen Uniform und der Europaflagge auf der Brust aussieht wie ein EU-Grenzbeamter. Er soll herausfinden, ob Menschen, die in die EU einreisen wollen, Fragen zu Identität, Reiseplänen und finanzieller Lage wahrheitsgemäß beantworten. Die Software dahinter kann etwas, wovon Menschen schon ...
"Das ist für mich Luxus"
Im Juni beschloss die große Koalition ein Konjunkturprogramm über 130 Milliarden Euro. Davon sind 4,3 Milliarden Euro als Kinderbonus vorgesehen, den mehr als neun Millionen Eltern bekommen sollen: 300 Euro für jedes Kind. Vorausgesetzt, im laufenden Jahr gab es in mindestens einem Monat Anspruch auf Kindergeld. Dann wird das Geld ausgezahlt. In zwei Raten im September und Oktober. Die genauen Termine hängen von der Endziffer der Kindergeldnummer ab.
Der Kinderbonus wird nicht auf andere Sozialleistungen angerechnet, steuerlich jedoch mit den Kinderfreibeträgen verrechnet. So werden Familien mit kleinen und mittleren Einkommen unterstützt, Eltern mit hohen Einkommen profitieren weniger oder gar ...
NOCH FRISCH
Einkochen, einlegen, fermentieren: Lebensmittel haltbar machen, das kannten viele nur von den
Großeltern oder von Menschen, die sich an den Krieg erinnern, an schlechte Zeiten, in denen
man nichts hatte. Als es weder Kühlschrank noch ständig volle Supermarktregale gab und manches
Obst und Gemüse ebenso kostbar wie verderblich war.
Heute ist das anders, und doch sieht man sie wieder häufiger: Gläser mit fermentiertem Kohl in den Küchenschränken. Menschen, die auf Instagram stolz ihr Eingemachtes präsentieren. Selbst Hipstercafés servieren pürierte Früchte an Müsli und Quinoaflocken im Glas, und selbst wenn das lediglich Dekoration ist, bleibt die Frage: Wie schaffte es Essen ...
"Ich möchte mir ein paar Geheimnisse bewahren"
DIE ZEIT:
Wann haben Sie während des Champions-League-Finales gemerkt, dass Ihre Mannschaft gewinnen wird?
Hansi Flick:
Wenn ich jetzt drüber nachdenke, dann hatte ich schon am Morgen nach dem Aufstehen ein gutes Gefühl. Auf alle Nachrichten, die mir meine Freunde aus Deutschland geschickt haben, habe ich geantwortet: Das wird gut ausgehen.
ZEIT:
Woher kam die Gewissheit?
Flick:
Ich wusste, die Spieler glauben an ihre Fähigkeiten. Das klingt jetzt vielleicht selbstverständlich, ist es aber nicht. Wenn ein Spieler kein Vertrauen in sich hat, dann leidet die Kreativität, die Leistungsbereitschaft. Natürlich haben wir auch den Gegner, Paris, analysiert. M ...
Europas Werk, Coronas Beitrag
Deutschland könnte doch noch sein Klimaziel für 2020 erreichen: Diese Nachricht sorgte in der vergangenen Woche für Schlagzeilen, als die Bundesregierung ihren
Klimaschutzbericht für 2019
veröffentlichte. Wirken die Maßnahmen doch besser als gedacht - nachdem die Bundesrepublik zuletzt Jahr für Jahr an ihren selbst gesteckten Zielen zu scheitern schien?
In dem 150-seitigen Dokument berichtet das Bundesumweltministerium detailliert über die Entwicklung des Treibhausgasausstoßes im Land. Grundlage ist die vorläufige amtliche Statistik der Emissionen ("Vorjahresschätzung"). Während die Autorinnen und Autoren ihre Bilanz für 2019 zu Papier brachten, wirkte sich die Corona-Krise auf die Volkswirtschaft aus.
Klar, wenn in Fabriken Kurzarbeit herrscht und ...
Bezahlt Erzieher endlich wie Grundschullehrer
Nicht kindgerecht! Zwei Wörter nur, aber deutlicher lässt sich der Zustand von Krippen und Kitas in Deutschland nicht beschreiben. Sie haben zu große Gruppen und zu wenig Personal. Vielerorts schaffen es Erzieherinnen und Erzieher gerade noch aufzupassen, dass den Kleinsten nichts zustößt. An frühkindliche Bildung ist in einem Großteil der von Missständen gezeichneten Einrichtungen kaum zu denken.
Es sind alarmierende Befunde, die die Bertelsmann Stiftung zur Lage der Kitas in dieser Woche veröffentlicht hat. Das "Ländermonitoring frühkindliche Bildungssysteme" bildet die Defizite in Zahlen ab. Zusätzlich zeigt eine qualitative Studie der Fernuniversität Hagen, für die 128 Erzieherinnen und Erzieher, Kita-Leitungen und ...
Mister Netzhaut
Botond Roskas Tage beginnen mit einer Schale Müsli und schwarzem Tee. Er setzt sich in einen Sessel und schließt die Augen. Vor ihm auf dem Tisch, erzählt er, lägen nur ein Blatt Papier und ein Stift. Er beginnt zu denken. Es fühle sich an, als kämen die Gedanken auf ihn zu; müsse er sie mit Farben beschreiben, wären sie gelb und orange, sagt er, wie die Provence. Manchmal vergesse er das Trinken. Für mehrere Stunden zieht er sich in seinen Kopf zurück, jeden Morgen, oft zu Hause, noch nicht im Büro. Roska träumt in diesen Momenten nicht vom Urlaub in ...
Er hat kurze Beine - aber lügt er auch?
Bevor meine Mutter meinen Vater kennenlernte, hatte sie Nico. Nico war ein acht Kilo schwerer Rauhaarteckel. An sein Gewicht erinnert sie sich bis heute, denn einmal musste sie ihn tragen, weil er bei einem Spaziergang auf einmal jämmerlich zu humpeln begann. "Es war ein heißer Tag. Nico konnte nicht mehr richtig laufen und hat dauernd den Blickkontakt zu mir gesucht", erzählt sie. Also nahm sie den Hund auf den Arm, trug ihn eineinhalb Stunden nach Hause und ging direkt mit ihm zum Tierarzt. "Als wir dort ankamen, lief er plötzlich wieder ganz munter herum."
Nach diesem Tag versuchte Nico die ...
Noch geht es gut
Am Tag, an dem das Robert Koch-Institut 1226 neue Corona-Infektionen in Deutschland meldet, den höchsten Wert seit Anfang Mai, klingelt um 9.05 Uhr die Schulglocke des Albert-Einstein-Gymnasiums in Berlin-Neukölln zur großen Pause, und Hunderte Schüler strömen aus den Klassenzimmern in Richtung Hof. Es sind 30 Grad Celsius an diesem Augustmorgen, dem dritten Schultag nach den Sommerferien in Berlin, und in den Gängen des Gymnasiums gibt es Wände aus Glas, aber kaum Fenster. Die Schüler tragen T-Shirts und kurze Hosen, Röcke und Sandalen, sie tragen Masken. Einigen rinnt der Schweiß den Hals hinunter, Haut an Haut schieben sie sich durch ...
Mit der Natur statt gegen sie
"Wir müssen den Zeh amputieren!" Das war der Satz, der für den Patienten alles verändert hat. Der 68-jährige Diabetiker starrte mich, die Ärztin, ungläubig an, schluckte, betrachtete den schwarzen Zeh. Dieser Moment war der Beginn eines langen Heilungsprozesses für seinen Fuß - und für sein Leben.
Als er ein Jahr später wieder ins Krankenhaus kam, war er kaum wiederzuerkennen: schlanker, fröhlicher, als wäre er zehn Jahre jünger. Er hatte aufgehört zu rauchen, ernährte sich gesund, trieb Sport, brauchte kaum noch Medikamente. Durch den Verlust seines Zehs war ihm klar geworden, wie verletzlich sein Körper, wie wertvoll seine Gesundheit ist.
...
Wie ich alle schwindelig schwindelte
Okay, damit wir das gleich am Anfang klären: Es gibt Lügen, die sind Mist. Und falsch. Weil sie anderen Leuten schaden. Weil Menschen dadurch reingelegt und betrogen werden. Oder weil man Freunde damit enttäuscht. Aber sind alle Lügen so schlimm?
Ich habe als Kind dauernd gelogen. Ohne Absicht. Es passierte nebenbei. Manchmal fragte mich jemand etwas, ich machte den Mund auf - und heraus kam eine Lüge. Mal wollte eine Mitschülerin wissen, was ich zum Geburtstag bekommen hatte. Ohne nachzudenken, sagte ich: Ein Bonanza-Rad. Das war damals ein besonders cooles Fahrrad, es sah ein bisschen aus wie ein Motorrad. Das ...
Das Problemhaus
Von München aus auf Dienstfahrt in Richtung Osten: Schon am Prinzregentenplatz, als die Ampel rot wurde, war der Blick am Haus Nummer 16 hinaufgewandert, bis in den dritten Stock, wo seine Wohnung lag. Da kann man gar nichts machen, das ist eine physiologische Reaktion. Dann über die Inn-Brücke von Simbach hinein nach Braunau. Müßig, so zu tun, als wisse man nichts und wäre auch nicht neugierig.
Braunau hat spitze, dünne Häuser, die sich am Stadtplatz zu einer pastelligen Doppelzahnreihe aufgestellt haben. Das sieht ganz und gar nach der freundlichen Kultur von Inn und Salzach aus. Gemessen an der Zahl der ...
Im Reich der niederen Dämonen
Zu den viel belächelten Standardphrasen, die über das amerikanische Kino im Umlauf sind, gehört die Feststellung, Hollywood sei das ewige Labor einer düsteren Zukunft. Seine Schwarzmaler seien wahre Hellseher, denn sie zeigten, was dem Land droht, wenn die Gesellschaft in einem gnostischen Kampf erstarrt: im Kampf zwischen Gut und Böse und Freund und Feind. Im Kino ist das kein Konflikt. Es ist der Bürgerkrieg.
Was wäre, wenn das Kino prophetische Fähigkeiten besäße? Es ist jedenfalls verstörend, welche Karriere das uralte Bild vom "Kampf des Lichts gegen die Mächte der Finsternis" derzeit im US-Wahlkampf macht. Der Demokrat Joe Biden präsentierte sich ...
Dominante Position
WAP
heißt das Lied, das die US-amerikanischen Rapperinnen Cardi B und Megan Thee
Stallion vor zwei Wochen herausgebracht haben, seither wurde es auf YouTube über 130 Millionen
Mal angeklickt, bei sämtlichen Streaming-Diensten rangiert es auf dem ersten Platz.
WAP
ist die Abkürzung für
"Wet-Ass Pussy",
im Text berichten die
Künstlerinnen von ihren sexuellen Vorlieben, zu denen unter anderem die Benutzung von
Halsbändern und Handschellen gehört. In jedem Fall legen sie Wert darauf, sich beim
Geschlechtsverkehr in der dominanten Position zu befinden, auch weil sie das Reiten auf den
unten liegenden Männern als Beckengymnastik schätzen. Viel mehr Spaß als ...
Am Ende ist es wie beim Kinderspiel
Es könnte alles anders sein. Oder zumindest ein bisschen. Das verspricht die Lüge, wo immer
sie vom Menschen verbreitet und geglaubt wird. Jede unwahre Geschichte stellt nicht weniger
als eine Alternative zur Realität dar, eine neue Möglichkeit dessen, was eigentlich ist.
Die DDR zum Beispiel könnte ebenso gut noch fortbestehen - dieses Szenario simulieren im Film
Good Bye, Lenin!
jedenfalls die Kinder einer vor 1989 ins Koma gefallenen und erst
nach der Wende aufgewachten Frau mithilfe eines komplexen Lügengebäudes, weil sie ihrer
Mutter, einer glühenden Anhängerin des Sozialismus, die Wahrheit nicht zumuten mögen. Weniger
weltpolitisch, dafür nicht minder engagiert ...
Die Zukunft greift uns an
Ausgerechnet ein bis auf den letzten Platz gefüllter Konzertsaal ist das Anfangsbild des ersten Blockbusters, der seit dem Beginn der Pandemie die Kinos erreicht. Auf der Bühne stimmt das Orchester die Instrumente, während die Besucher und Besucherinnen sich setzen. In die Dissonanz des vorkonzertanten Wirrwarrs mischen sich die ersten Akkorde des Soundtracks, perkussiv und dunkel dräuend. Noch bevor sich das derart angekündigte Unheil auf der Leinwand Bahn bricht, erleben wir fast schmerzlich eine weitere Dissonanz: den Gegensatz zwischen dem Leinwandbild eines Saals voller Menschen und der Realität des unter Distanzierungsregeln nur halbwegs gefüllten Kinos. Ein bis vor Kurzem gewöhnlicher Anblick ...
Beten mit dem falschen Pfarrer
An dieser Stelle wollen wir einen Moment innehalten und uns voller Freude bedanken. Und zwar bei der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater im polnischen Lodz. Sie hat Regisseure wie Andrzej Wajda, Roman Polanski, Jerzy Skolimowski, Janusz Morgenstern und Krzysztof Zanussi hervorgebracht. In Lodz studierten Kameraleute wie Piotr Sobociñski, der mit Krzysztof Kieœlowskis Film
Drei Farben: Rot
für den Oscar nominiert wurde, oder Hoyte van Hoytema, Lieblingskameramann von Christopher Nolan, der auch dessen jüngsten Film
Tenet
fotografiert hat (siehe nebenstehenden Text). Die Absolventen dieser legendären Filmhochschule mögen höchst unterschiedliche Filmstile entwickelt haben, doch gemeinsam ist ihnen ein großes Formbewusstsein, e ...
"Man lässt dem anderen kaum noch Luft"
DIE ZEIT:
Sie waren 20 Jahre bis 2012 Reporter bei der
Süddeutschen Zeitung,
vielfach preisgekrönt. Heute arbeiten Sie als Schriftsteller. Nun haben Sie ein Buch veröffentlicht, in dem Sie der
SZ
vorwerfen, dass man nicht mehr schreiben kann, was ist und was man denkt. Sie schildern das anhand von drei Reportagen von Ihnen, die nicht gedruckt wurden. Sie sagen - verkürzt -, aus politischen Gründen. Im Prinzip ist Ihr Buch aber eine Kritik am gesamten derzeitigen Journalismus. Warum kommt es gerade jetzt, gab es einen aktuellen Auslöser?
Birk Meinhardt:
Nein. Ich habe mich selbst wie eine literarische ...
Ekstase in Süß
Gestrüpp, ein Ort des Verfangens und Wucherns: Ebendort befinden wir uns zu Beginn dieses Romans mit der Ich-Erzählerin. Ihre Suche gilt dem "leuchtenden Pfad, der durch die Dinge hindurchführt, hin zu einem Punkt der Erkenntnis". Doch wer Dorothee Elmigers stets grenzgängerische und fragmentarische Prosatexte kennt, der weiß: Den direkten Weg gibt es natürlich auch diesmal nicht. Und so wird das anfängliche Dickicht in
Aus der Zuckerfabrik
zu einem ästhetischen Programm. Wir winden uns durch ein Gebüsch aus Tagebucheinträgen, Reiseerinnerungen, aufgelesenen Geschichten und vor allem durch Zustände zwischen Traum und Schlaflosigkeit.
Dass Max Frisch und Heinrich von Kleist einmal miteinander Karten ...
Eine literarische Malakoff-Torte
Es gibt österreichische Autoren, die auf pompöse Weise undiszipliniert sind. Zum Beispiel Heimito von Doderer, der den Leser mit einer Fülle an Personen, Zeitebenen, derbem Humor, einer Sintflut an Adjektiven, direkten Ansprachen, Austriazismen, Metareflexionen und penetrantem Spott über die eigenen Figuren barock überflutet. Ein moderner Lektor hätte etwa im berühmten Wien-Roman
Die Strudlhofstiege
manches Kapitel auf wenige Absätze zusammengestrichen und überhaupt etwas Ordnung in das berstende Wunderwerk von 1951 gebracht - und dabei sehr wahrscheinlich jeden Reiz und jede Eigenwilligkeit vernichtet.
Es verwundert, wenn einem noch heute eine derartige literarische Malakoff-Torte serviert wird, mit Biskuits, Eidotter, ordentlich Rum, Mandeln, Kirschen ...
Die Lehre vom Sein
Wolfgang G., der in den Sechzigerjahren geborene und sehr sensible Therapeut meines sensiblen Kolumnen-Ichs, war noch immer irgendwo in Griechenland verschwunden, aber ich war so erschöpft, dass ich sowieso sämtliche Wolfgang-Termine und alles, was sonst zu erledigen war, gecancelt hatte. Disclaimer: Ich machte Ferien, Ferien in einem völlig neutralen Sinn, unpolitische Ferien. Das heißt, ich tat, was man im August tut, wenn man freihat (Mani & Pedi), und meine unpolitischen Geschäfte liefen wirklich okay, solange ich niemanden sah, nichts kaufte, nicht über Geld nachdachte und nicht ins Internet guckte. Einmal musste ich aber doch eine kurze Digital-Detox-Pause machen und ...
Impressum
Gründungsverleger:
Gerd Bucerius (1906-1995)
Herausgeberrat:
Prof. Jutta Allmendinger, Dr. Nicola Leibinger-Kammüller, Zanny Minton Beddoes, Florian Illies, Dr. Josef Joffe
Ehemalige Herausgeber:
Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002) Helmut Schmidt (1918-2015)
Vorsitzender der Chefredaktionen des Zeitverlags und Chefredakteur:
Giovanni
di Lorenzo
Stellvertretende Chefredakteure:
Moritz Müller-Wirth (Managing
Editor), Sabine Rückert, Holger Stark, Bernd Ulrich
Mitglieder der Chefredaktion:
Malin Schulz, Jochen Wegner, Dr. Stefan Willeke (Chefreporter)
Chef vom
Dienst:
Iris Mainka (verantwortlich), Mark Spörrle
Textchef:
Dr. Christof Siemes
Geschäftsführende Redakteure:
Patrik Schwarz, Andreas Sentker
Chefkorrespondentin:
Tina Hildebrandt
Internationaler Korrespondent:
Matthias Naß
Leitender Redakteur:
Hanns-Bruno Kammertöns
Redaktionsleiter Digitale Ausgaben:
Götz ...
Die Sachbuch-Bestenliste für September
1(-)
Omri Boehm: Israel - eine Utopie
A. d. Engl. v. M. Adrian; Propyläen;
256 S., 20,- € "Lasst das Licht der öffentlichen Debatte dazu beitragen, ein rationales
Urteil über den jüdischen Staat zu fällen", sagt der Philosoph Omri Boehm. Er unterscheidet in
Bezug auf Israel Selbstbestimmung und Souveränität: Das israelische Volk habe ein Recht auf
Selbstbestimmung, aber keines auf eine Souveränität, die Minderheiten oder andere Völker
unterdrücke. Boehm benennt Demokratiedefizite, ohne Polemik.
68 Punkte
2(-)
Ronen Steinke: Terror gegen Juden
Berlin Verlag; 256 S., 18,- €
Jüdische Schulen müssen von Bewaffneten bewacht werden, jüdischer ...
Zwanzig Finger, ein Gedanke
Sie sitzen wie an einer meterlangen, reich gedeckten, schwarzen Tafel, als wären sie Herzogin und Herzog im Speisesaal. Seit Jahrzehnten sind die beiden ein vertrautes Paar, doch ihre Blicke begegnen sich nur selten, müssen sich gar nicht begegnen. Über das Wichtigste hat man sich längst verständigt: Abenteuerlust statt Routine - und bei neuen Aufgaben am liebsten die unerfüllbaren.
Yaara Tal und Andreas Groethuysen zählen zu den besten Klavierduos der Welt. Ihre Brillanz und ihr Timing sind atemberaubend. Oft waren und sind Klavierduos Geschwister oder gar Zwillinge (die Labèques, die Naughtons, die Paratores, die Pekinels, die Kontarskys, die Jussens), sie sind ...
"Alle Menschen sind Lügner"
In den zehn Geboten, die Mose der Menschheit - angeblich von Gott selbst - ausrichten sollte, heißt es: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten." Die Gebote sind eine Art Paragrafen für das alttestamentliche Gesetzbuch, und dieses achte Gebot bedeutetet für die Richter im vorantiken Israel: Wer einen anderen verleumdet, falsch beschuldigt oder an ihm Rufmord begeht, den erwartet von Rechts wegen genau die Strafe, die er seinem Opfer an den Hals gewünscht hat. Es handelt sich beim achten Gebot also um den Rechtsfrieden und die Strafbarkeit einer Falschaussage vor Gericht. Eine Falschaussage konnte zu dieser Zeit ...
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