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Großanlagenbau - zwischen Aufschwung und Kriegssorgen

MASCHINEN- UND ANLAGENBAU | GENIOS BranchenWissen Nr. 05 vom 30.05.2022


Ukrainekrieg beendet die Euphorie

Der deutsche Maschinenbau hat sich im vergangenen Jahr von den Einbußen des ersten Coronajahres 2020 gut erholt und steht in vielen Bereichen kurz davor, das Vorkrisenniveau zu erreichen. Bei den Ausfuhren erzielten die deutschen Hersteller 2021 ein Plus von 9,8 Prozent, das Volumen betrug damit 179,4 Milliarden Euro und lag damit um nur noch ein Prozent unter dem Niveau von 2019. Geradezu dramatisch gingen die Aufträge nach oben. Der Orderzuwachs lag gegenüber 2020 bei 32 Prozent.

Noch bis Februar dieses Jahres konnte man davon ausgehen, dass der Maschinenbau ein Rekordjahr vor sich hat. Dann kam der Ukrainekrieg, und seitdem macht sich Verunsicherung breit. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) hatte für 2022 eigentlich ein Produktionsplus von sieben Prozent erwartet, infolge des Krieges wurde die Prognose auf nur noch vier Prozent nach unten korrigiert. Ganz große Sorgen muss man sich aber nicht machen, dafür ist das Volumen des gesamten Maschinenhandels mit Russland und der Ukraine zu gering. Die Landmaschinentechnik hingegen hat in Russland und auch in der Ukraine einen wichtigen Auslandsmarkt und könnte die Verwerfungen durch den Angriff empfindlicher zu spüren bekommen. (1)


Sprunghafte Zuwächse im zweiten Coronajahr

Sprunghafte Zuwächse hat 2021 auch der Großanlagenbau verzeichnet - womit die auf den Weltmärkten von starker Konkurrenz bedrängten deutschen Anbieter gar nicht gerechnet hatten. Kernelemente des Großanlagenbaus sind Chemieanlagen, Kraftwerke und Hütten- bzw. Walzwerke. Laut der Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau (AGAB) im Verband Deutscher Anlagen- und Maschinenbau (VDMA) stiegen die Aufträge im vergangenen Jahr um erstaunliche 78 Prozent auf 21,2 Milliarden Euro. Die Aufträge kamen insbesondere aus Schwellenländern. Im Jahr des Corona-Ausbruchs, 2020, lagen die Aufträge bei 11,9 Milliarden Euro.

Laut der AGAB ist es die Bekämpfung des Klimawandels, die im vergangenen Jahr die Bestellzahlen in die Höhe schnellen ließ. Demnach soll in vielen Länder klima- und ressourcenschonender produziert werden, was den Anlagenanbietern zugutekommt. So sieht die Branche großes Potenzial insbesondere in Großanlagen zur Produktion von grünem Wasserstoff - der so heißt, weil er ausschließlich durch erneuerbare Energien hergestellt wird.

Die Euphorie über die explodierenden Aufträge ist durch den Angriff Russlands allerdings schon wieder zu Ende. Grund ist, dass die Wachstumszahlen 2021 in erster Linie auf Bestellungen aus Osteuropa zurückgingen. 18 Milliarden der genannten 21,2 Milliarden Euro sind Auslandsaufträge, 6,3 Milliarden Euro - also mehr als ein Drittel - entfielen auf den russischen Markt. Die optimistische Stimmung ist daher seit dem Angriff am 24. Februar gedämpften Erwartungen gewichen. Derzeit geht man davon aus, dass sich die Umsetzung der Megaprojekte durch den Krieg stark verzögern wird. Schon jetzt berichten 75 Prozent der AGAB-Mitgliedsunternehmen von massiven Störungen der Geschäftsbeziehungen zu Firmen der kriegführenden Region. (8), (9)





Fallbeispiele


Boom bei Chemieanlagen

2020 hatten die deutschen Chemieanlagenbauer Neubestellungen von 1,9 Milliarden Euro in den Büchern, der Boom des Jahres 2021 bescherte den Anbietern einen Auftragsbestand von 7,1 Milliarden Euro. Die höchsten Investitionen in Chemieanlagen wurden in Asien getätigt. Marktkenner glauben, dass schon im Jahr 2030 zwei Drittel der weltweiten Umsätze mit Chemieprodukten durch asiatische Firmen erzielt werden. Schon heute hat China einen Anteil am weltweiten Chemie-Umsatz von 40 Prozent. Ein Wachstumsmarkt ist auch Indien.

Bisher ist Europa immer noch zweitgrößter Standort für die chemische Industrie, wird diesen Rang aber gegenüber aufstrebenden Schwellenländern verteidigen müssen. Größtes Chemieunternehmen der Welt ist BASF in Ludwigshafen, auf Platz zwei des globalen Rankings folgt die Bayer AG in Leverkusen. (2), (4)


Kraftwerksbau: Grund zum Optimismus

Manche Experten prognostizieren dem Anlagenbau auch für 2022 - vorausgesetzt, der Ukrainekrieg bleibt ein regional begrenzter Konflikt - gute Aussichten. Befeuert wird der Optimismus durch die großen Trends, wie zum Beispiel den Umbau der Energiewirtschaft zu klimafreundlicher Stromproduktion. So könnte der Windanlagenbau, auch infolge der neuen Zielsetzung, Deutschland von russischen Energielieferungen unabhängig zu machen, deutlich zulegen. Schon im vergangenen Jahr sind die Auftragseingänge für neue Windkraftanlagen weltweit um 42 Prozent auf einen neuen Höchststand von 103 Gigawatt Gesamtkapazität gestiegen. Die Internationale Energie-Agentur (IEA) prognostiziert dem Zubau bei Anlagen für die klimafreundliche Stromerzeugung in den nächsten Jahren eine gewaltige Beschleunigung - die aber wahrscheinlich auch noch nicht ausreicht, um die Emissionen wie geplant bis 2050 auf null zu bringen.

Gleichfalls als Reaktion auf die Klimaerwärmung darf es gelten, dass Siemens gerade den höchsten Auftrag seiner Geschichte erhalten hat. - Zwar nicht für den Bau eines Kraftwerks, aber für den Aufbau eines elektrischen Schnellzugsystems. Der Auftrag kam jüngst aus Ägypten und ist 8,1 Milliarden Euro schwer. Zugleich gab Siemens bekannt, dass der Konzern seine Geschäftstätigkeit in Russland nach 170 Jahren Schritt für Schritt beenden wird. Damit folgt Siemens dem Beispiel u.v.a. von BASF und Henkel. (5), (6)


Thyssenkrupp setzt auf Anlagenbau

Der sich gerade aus der größten Krise seiner Geschichte herausarbeitende Industriekonzern Thyssenkrupp baut für seine Anlagenbausparte (hieß bisher UCE, neuerdings Nucera) insbesondere auf die klimaneutrale Wasserstoffproduktion, also den sogenannten grünen Wasserstoff. Das Tochterunternehmen soll seine Umsätze innerhalb der nächsten drei Jahre auf 600 bis 700 Millionen Euro verdoppeln; Nucera baut Elektrolyse-Anlagen in industriellem Maßstab. In diesen Anlagen lässt sich Wasser mit Hilfe von Strom in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen. Wasserstoff könnte irgendwann Öl und Gas als Energieträger ersetzen. (7)



Zahlen & Fakten


Der Chemieanlagenbau war in 2021 das stärkste Segment im Großanlagenbau, die Bestellungszuwächse lagen je nach Berechnungsmethode zwischen 255 und 270 Prozent. Bei Hütten- und Walzwerken lag das Orderplus mit 160 Prozent ebenfalls sehr hoch. Die Anbieter von Kraftwerksanlagen erhielten 31 Prozent mehr Aufträge als 2020.

In den letzten zehn Jahren lagen die Bestellungen deutscher Chemieanlagen nie höher als bei vier Milliarden Euro. Die über sieben Milliarden Euro aus dem Vorjahr bedeuten als auch innerhalb der Bestellhistorie eine gewaltige Zunahme.

Der letzte Boom des Anlagenbaus war 2008 und ist damit lange her. Die Finanzkrise hatte den stark anziehenden Bestellungen damals ein jähes Ende bereitet.

Die schönen Orderzuwächse des deutschen Großanlagenbaus haben durch Russlands Angriffskrieg einen bitteren Beigeschmack bekommen: 35 Prozent aller Bestellungen deutscher Anlagen kamen 2021 aus Putins Reich. Die nächsten drei Länder im Ranking der größten Besteller sind die USA, Südkorea und China - die jeweils aber nur für sechs Prozent der Orders stehen.

60 Prozent der AGAB-Mitglieder wollen infolge des Ukrainekrieges bei künftigen Projekten eine veränderte Risikoeinschätzung vornehmen. (3)



Weiterführende Literatur:

(1.) Deutscher Maschinenbau: Resilienz ist das Gebot der Stunde
aus news aktuell vom 02.05.2022

(2.) Starkes Wachstum im Chemieanlagenbau
aus CHEManager Heft 4/2022 S. 18

(3.)VDMA-Lagebericht zum Großanlagenbau sieht Licht und Schatten für Chemieprojekte
aus chemietechnik.de vom 13.05.2022

(4.) Großanlagenbau profitiert von De-Globalisierung und Dekarbonisierung
aus chemietechnik.de

(5.) Projektgeschäft mit Rückenwind
aus DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung, Heft BBRB/2022, S. 4

(6.) Siemens beendet Geschäfte in Russland
aus chemietechnik.de

(7.) Wasserstoff: Thyssenkrupp sieht Potenzial für Anlagenbau
aus Welt online vom 13.01.2022

(8.) Großanlagenbau legt sprunghaft zu
aus VDI-Nachrichten Heft 6/2022, S. 4

(9.) Glänzende Zahlen, große Russland-Risiken
aus CHEMIE TECHNIK, Heft 4/2022, S. 26 - 28

Robert Reuter

Metainformationen

Quelle: GENIOS BranchenWissen Nr. 05 vom 30.05.2022
Dokument-ID: s_mas_20220530

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