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Fortschritt mit Hindernissen - Digitalisierung der Energiewirtschaft kommt nur im Schneckentempo voran

INFORMATION & KOMMUNIKATION | GENIOS WirtschaftsWissen Nr. 10 vom 23.10.2018


Ernüchternder Blick auf den Status quo

Im vergangenen Monat hat die Bundesregierung "die Leitlinien für die Energieforschungsförderung der kommenden Jahre" veröffentlicht. Der Titel der 100-seitigen Schrift lautet: "Siebtes Energieforschungsprogramm der Bundesregierung - Innovationen für die Energiewende". Eine zentrale Rolle darin spielt die Digitalisierung der Energiewirtschaft, von der sich die Koalitionsparteien "eine Schlüsselrolle bei der Lösung bestehender und zukünftiger Herausforderungen der Dezentralisierung, Flexibilisierung und effizienten Nutzung von Energie und Ressourcen" erhoffen. Da das Thema Digitalisierung für die Bundesregierung so eine große Rolle zu spielen scheint, lohnt sich ein Blick auf den Status quo. Er ist, um es gleich vorwegzunehmen, ernüchternd. (1)


Digitalisierung der Energiewirtschaft noch nicht weit fortgeschritten

Fakt ist, dass die Digitalisierung der Stromwirtschaft im Vergleich mit anderen Industrien noch nicht weit fortgeschritten ist. Dies liegt in diesem Fall aber wohl kaum an der traditionellen Schwerfälligkeit dieser alteingesessenen Branche, sondern an der Komplexität der Herausforderung, die allen Beteiligten wahre Herkuleskräfte abverlangt. Verantwortlich dafür ist die seit dem Reaktorunglück von Fukushima proklamierte Energiewende der Bundesregierung. Sie hat bis zur Mitte dieses Jahrhunderts eine fast komplette Dekarbonisierung der Energiewirtschaft zum Ziel. Diese ist aber nur möglich, indem der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Stromerzeugung kontinuierlich zunimmt. Die Folge davon ist, dass immer mehr Wind- und Solaranlagen errichtet werden, die ihre Energie dezentral und abhängig von den Wetterverhältnissen, also unregelmäßig, in das Netz einspeisen. Um diese inkohärente Energiezufuhr zu regulieren, ist ein erhöhter Steuerungsbedarf unerlässlich. Für diese Aufgabe ist eine Digitalisierung der Stromnetze geradezu prädestiniert, wie die Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) anlässlich einer im Sommer dieses Jahres veröffentlichten Studie festgestellt hat. (2), (5)


Nahezu undurchdringlicher Paragrafendschungel

Die Komplexität der Aufgaben ist aber nur ein Grund, warum die Digitalisierung der Branche lediglich im Schneckentempo vorankommt. Ein anderer ist der nahezu undurchdringliche Dschungel an gesetzlichen Vorgaben, der die Verantwortlichen der Energieindustrie zögern lässt. Die deutsche Gründlichkeit in allen Ehren, aber über 10 000 gesetzliche Verordnungen grenzen an Regulierungswahn und sind ein Bremsklotz, der selbst die eifrigsten Neuerer aufhält. Ein weiterer Grund, warum die Digitalisierung der Energiebranche nur schwer in die Gänge kommt, ist ebenso ärgerlich: Es fehlt schlichtweg an dem nötigen Fachpersonal. (2)



Trends


Das Smart Home wird sich durchsetzen, und zwar schon bald

Von der Digitalisierung der Energiebranche wird in Zukunft auch der Stromkunde profitieren. Die Stichwörter in diesem Zusammenhang heißen Smart Home als verbraucherorientiertes Pendant zum Smart Grid, das die Digitalisierung der Netze bezeichnet. Das Thema Smart Home kursiert zwar schon seit geraumer Zeit durch alle Medien, getan hat sich aber bisher noch nicht viel, was nicht bedeuten soll, das der Durchbruch noch lange auf sich warten lässt. Bisher werden in ganz Europa pro Jahr nur rund 40 000 solcher Systeme verkauft. Das Beratungsunternehmen Delta Energy & Environment hat aber prognostiziert, dass sich schon während der kommenden drei Jahre das Volumen auf 200 000 verkaufte Sets jährlich ausweiten soll. Wenn sich dann auch noch private Energiespeicher und Elektroautos durchsetzen, soll der Markt für Smart-Home-Systeme sogar noch weiter wachsen. (3), (8)


Anfälliger für Hackerangriffe

Intelligente Stromnetze werden anfälliger für Hackerangriffe. Dass dies kein Szenario aus einem Science-Fiction-Film ist, zeigt ein Zwischenfall aus dem Jahr 2015. Im Dezember dieses Jahres setzten Internet-Kriminelle das Energienetz der Ukraine stundenlang außer Gefecht. Das ist auch in Deutschland möglich und in geringerem Ausmaße als in der Ukraine auch schon geschehen, wie das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BIS) bekannt gegeben hat. Zwar sei es den Eindringlingen noch nicht gelungen, bis in das Herz zentraler Energieversorgungseinrichtungen vorzustoßen, dies sei aber wahrscheinlich vor allem der Tatsache geschuldet, wie beispielsweise Professor Norbert Pohlmann vom Institut für Internet-Sicherheit der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen behauptet, dass viele Stromnetze noch unabhängig voneinander operieren. Die zunehmende Digitalisierung werde das ändern. Hackerangriffe würden wahrscheinlich häufiger stattfinden und erfolgreicher verlaufen.

Ein einstündiger Stromausfall zur Mittagszeit würde den Berechnungen des Hamburger Weltwirtschafts-Instituts (HWWI) zufolge einen Schaden von rund 600 Millionen Euro verursachen. Es ist also kein Wunder, dass deutsche Energieversorger schon jetzt ihre Sicherheitsvorkehrungen kontinuierlich ausbauen. (1), (4)


Digitalisierung führt zum Abbau von Hierarchien

Nach Ansicht von Experten werden sich durch die Digitalisierung der Energiewirtschaft auch die Organisationsmodelle der internen Zusammenarbeit ändern. Hierarchische Strukturen werden aufgebrochen, Herrschaftswissen verliert an Wert, eingeübte, lange bewährte Muster von Handlungsabläufen werden an Bedeutung verlieren. An ihre Stelle wird eine Firmenkultur treten, die von Kooperation geprägt ist und in der vom Mitarbeiter bis zur Führungskraft Agilität und Flexibilität erwartet werden. Eine gute Führungskraft im Zeitalter der Digitalisierung darf sich außerdem nicht darauf beschränken, Bestehendes nur zu verwalten, sie muss auch neue Ideen entwickeln. (7)



Fallbeispiele


Innogy bereitet sich mit israelischen Experten auf den Ernstfall vor

Ein Beispiel dafür, wie sich die Energiewirtschaft schon jetzt um ihren Sicherheitsapparat kümmert, liefert Innogy, der größte Stromnetzbetreiber Deutschlands. Die Essener beschäftigen nicht nur 130 Experten, die darauf getrimmt sind, Unregelmäßigkeiten zu entdecken, sie arbeiten zu diesem Zweck auch mit einer Firma aus Israel zusammen. Cybergym, so der Name des Unternehmens, wird in Zukunft Innogy-Mitarbeiter darin schulen, Hackerattacken zu entdecken und zu unterbinden.

Es ist geplant, die Trainingseinheiten unter realistischen Bedingungen stattfinden zu lassen, damit die Mitarbeiter lernen, auch unter Stress richtig zu reagieren. Diese Vorbereitung ist absolut notwendig. Denn die Folgen eines großflächigen Ausfalls einer digitalisierten Stromversorgung durch Hackerangriffe wären katastrophal. Der österreichische Autor Marc Elsberg hat sie in seinem Roman "Blackout. Morgen ist es zu spät" mit erschreckender Konsequenz durchgespielt. (1), (4)


E.ON und Microsoft wollen dem Thema Smart Home auf die Sprünge helfen

Microsoft und E.ON haben eine Kooperation bekannt gegeben, um dem Thema Smart Home auf die Sprünge zu helfen. Sie haben zu diesem Zweck eine Software entwickelt, die es möglich macht, alle digitalen Geräte in einem Haus zentral zu steuern. Dazu gehören zum Beispiel Heizkörper, Solar- und Klimaanlagen sowie Waschmaschinen. Ein smartes Energiemanagementsystem soll außerdem dazu beitragen, den Stromverbrauch zu regeln und die Kosten für die Verbraucher zu drücken. Anfang nächsten Jahres fällt der Startschuss für das neue Smart-Home-Set. (8)


Österreichs Personalprobleme

Ein Blick über die Grenze nach Österreich zeigt, dass unser Nachbar ebenfalls Personalprobleme hat. Laut einer Studie von Ernst & Young vertreten über 60 Prozent der Entscheider die Meinung, dass dies der Grund dafür sei, dass die Digitalisierung der Energiewirtschaft nicht so richtig in die Gänge kommen will. (6)



Weiterführende Literatur:

(1.) Siebtes Energieforschungsprogramm der Bundesregierung - Innovationen für die Energiewende
aus Polit-X vom 27.09.2018

(2.) Die Digitalisierung der Stromnetze als Konsequenz der Energiewende. Von der Robustheit zur Resilienz
aus Polit-X vom 27.09.2018

(3.) Nichts geht mehr ohne Digitalisierung
aus www.powernews.org Meldung vom 04.10.2018 - 11:33

(4.) "Angreifer werden immer intelligenter"
aus Pfälzischer Merkur Nr 185, 11.08.2018, S. 8

(5.) Metastudie: Datennutzung erlaubt Energiewende den großen Sprung
aus Pfälzischer Merkur Nr 185, 11.08.2018, S. 8

(6.) Auch der E-Wirtschaft fehlen digitale Wandler
aus "Der Standard" vom 22.09.2018 Seite: 26

(7.) Zeeb: "Wir müssen uns um 180 Grad drehen"
aus energate vom 01.10.2018

(8.) Eon verbündet sich mit Microsoft
aus Handelsblatt Nr. 185 vom 25.09.2018 Seite 014

Harald Reil

Metainformationen

Quelle: GENIOS WirtschaftsWissen Nr. 10 vom 23.10.2018
Dokument-ID: c_info_20181023

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