GENIOS WirtschaftsWissen > WIRTSCHAFTSRECHT UND -POLITIK
Logo GENIOS WirtschaftsWissen

Arbeitsmarktregulierung - das richtungsweisende EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung

WIRTSCHAFTSRECHT UND -POLITIK | GENIOS WirtschaftsWissen Nr. 06 vom 18.06.2019


Bundesregierung muss Arbeitszeiterfassung neu regeln

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Mai 2019 ein richtungsweisendes Urteil zur Arbeitszeiterfassung gefällt. Demnach sollen Arbeitgeber künftig verpflichtet werden, die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Der Gesetzgeber will damit sicherstellen, dass die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten sowie die Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit tatsächlich eingehalten werden. Damit ist auch die Bundesregierung gezwungen, die Arbeitszeiterfassung neu zu regeln. (1), (4)


Die Regelungen in Deutschland

In Deutschland gibt es bislang nur eine Aufzeichnungspflicht für Überstunden, nicht aber für die "normale" Arbeitszeit von acht Stunden täglich. Gesetzliche Grundlage ist das Arbeitszeitgesetz (ArbZG). Ferner besteht für bestimmte Arbeitnehmer eine Pflicht zur Dokumentation von Arbeitszeiten aus dem Mindestlohngesetz. Auch sind Arbeitszeiten in bestimmten Branchen zu erfassen, die als besonders gefährdet für Schwarzarbeit gelten. Dies sind das Baugewerbe, die Gastronomie, Transport und Logistik oder die Gebäudereinigung. Die Arbeitszeiterfassung ist zudem aus betriebsverfassungsrechtlicher Sicht verpflichtend. (7), (8)


Urteil bezieht sich ursprünglich auf Spanien

Das Urteil des EuGH geht auf die Klage einer spanischen Gewerkschaft gegen die Deutsche Bank in Spanien zurück. Sie wollte den Arbeitgeber verpflichten, die täglich geleisteten Stunden ihrer Mitarbeiter aufzuzeichnen und so die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeiten sicherzustellen. Grundlage der Klage ist die EU-Arbeitszeitrichtlinie sowie die Grundrechte-Charta der EU. Der EuGH erklärte, dass es in jedem Mitgliedstaat ein System der Arbeitszeiterfassung geben muss, das "die praktische Wirksamkeit der von der Arbeitszeitrichtlinie und der Charta verliehenen Rechte gewährleistet". (1), (4), (7)


Mitgliedsstaaten haben Gestaltungsspielräume

Die EU-Mitgliedsstaaten haben bei der Umsetzung des Urteils Gestaltungsspielräume. So kann jeder Staat die Modalitäten zur Umsetzung eines Zeiterfassungssystems selbst festlegen. Laut EuGH sind bei der Zeiterfassung "die Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar die Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihre Größe", zu berücksichtigen. So könnte der Gesetzgeber etwa über Kleinbetriebsklauseln klein- und mittelständische Unternehmen vor den Kosten der Einführung von Zeiterfassungssystemen bewahren. (1), (7)



Trends

Knapp ein Drittel der Betriebe in Deutschland beschäftigt mindestens einen Teil seiner Beschäftigten auf Basis sogenannter Vertrauensarbeitszeiten, also ohne laufende Arbeitszeitdokumentation. Dies geht aus einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervor. Vertrauensarbeitszeiten sind besonders in Dienstleistungsberufen verbreitet. In der Kommunikationsbranche, bei Finanzdienstleistern und in gemeinnützigen Organisationen gilt dies in jedem zweiten Betrieb. (2)

In Deutschland gibt es seit Längerem eine Debatte über eine Anpassung des Arbeitszeitgesetzes an die digitale Arbeitswelt. Das geltende Recht sieht eine tägliche Höchstarbeitszeit von acht, im Ausnahmefall von zehn Stunden vor. Außerdem muss eine elfstündige Ruhezeit eingehalten werden. Die Arbeitgeber halten das nicht mehr für zeitgemäß. (1)

Während die Entscheidung des EuGH in Staaten wie Spanien und Deutschland spürbare Auswirkungen haben wird, betrifft sie in Österreich nur wenige Arbeitnehmer. Der Grund: In Österreich sind die Arbeitgeber bereits seit Inkrafttreten des Arbeitszeitgesetzes (AZG) im Jahr 1970 verpflichtet, Beginn und Ende der Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer sowie der Ruhepausen aufzuzeichnen. (3)

Durch eine ausnahmslose Zeiterfassung könnte die Flexibilität im Home Office und bei der mobilen Arbeit stark eingeschränkt werden. Denn die Dokumentation der gesamten Arbeitszeit wird im Home Office und bei der Mobilarbeit nicht einfach umzusetzen sein. Allerdings lassen sich zur Dokumentation inzwischen auch Online-Zeiterfassungssysteme einsetzen, die auf dem PC oder als App auf dem Diensthandy installiert werden. Möglich ist aber auch die Erfassung auf einer einfachen Excel-Tabelle oder einem Blatt Papier. Diese Formen der Zeiterfassung sind jedoch aufwendig, fehleranfällig und intransparent. Zudem wird es weiter möglich sein, die Zeiterfassung an den Arbeitnehmer zu delegieren. (6)



Fallbeispiele

Das Urteil des EuGH hat bei den deutschen Arbeitgebern scharfe Kritik ausgelöst. Sie befürchten, für alle Arbeitnehmer Stechuhren oder digitale Zeiterfassungssysteme einführen zu müssen - verbunden mit stark erhöhtem Bürokratieaufwand und möglichen Konflikten über die Einhaltung tariflicher oder vertraglicher Arbeitszeiten. (1), (2)

Politiker der CDU und FDP haben das Urteil kritisiert und vor mehr Bürokratie gewarnt. Carsten Linnemann, Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) sagte, dass es schon heute "Unmengen an Dokumentationsvorschriften" gebe. Und die stellvertretende FDP-Vorsitzende, Nicola Beer, erklärte: "Wir brauchen mehr statt weniger Flexibilität und einen entsprechend praktikablen Rechtsrahmen". Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) erklärte dagegen, die Aufzeichnung von Arbeitszeit sei notwendig, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern. Es gehe um Löhne und Arbeitnehmerrechte, das sei keine überflüssige Bürokratie. (1)

Kritik hat auch die Internetwirtschaft an dem EuGH-Urteil geübt: "Start-ups arbeiten nicht nach der Stechuhr wie vor 100 Jahren", sagte der Vorsitzende des Bundesverbands Deutsche Start-ups, Florian Nöll. Und der Präsident des IT-Verbands Bitkom, Achim Berg, erklärte, viele Arbeitnehmer wollten flexibler arbeiten und forderten das aktiv ein. Das EuGH-Urteil mache deutlich, dass das Arbeitsrecht modernisiert und in das digitale Zeitalter überführt werden müsse. (1)

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat begrüßt, dass der EuGH "der Flatrate-Arbeit" einen Riegel vorschiebe. Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach verwies auf die knapp 2,2 Milliarden Überstunden, die deutsche Arbeitnehmer 2018 geleistet haben. Wenn die Arbeitszeiten der Beschäftigten nicht lückenlos erfasst würden, komme das "einem Lohn- und Zeitdiebstahl gleich". (1)

Sipgate, ein Düsseldorfer Unternehmen für Internettelefonie, lässt die Arbeitszeit seiner 170 Mitarbeiter bereits täglich erfassen. Das Ziel: Niemand sollte mehr als 40 Stunden pro Woche arbeiten. "Überstunden machen nicht produktiver", sagt Tim Mois, Geschäftsführer von Sipgate. Die Sipgate-Mitarbeiter können nicht nur stempeln, sondern ihre Arbeitszeiten jederzeit von Hand nachtragen. (5)

Die auf Webentwicklung spezialisierte Augsburger Agentur Peerigon GmbH hat das EuGH-Urteil ebenfalls begrüßt. "Ich weiß, dass nun einige Unternehmen etwas ändern müssen. Besonders diejenigen unter ihnen, die davon gelebt haben, dass ihre Mitarbeiter unbezahlte Überstunden gemacht haben", sagte Peerigon-Chef Stephan Batteiger. Bei Peerigon werden seit fünf Jahren die Arbeitszeiten der Mitarbeiter erfasst. Das geschieht über eine App. Diese internetbasierte Lösung ist genauso einfach zu bedienen wie eine klassische Stechuhr. Ein Knopfdruck auf dem Smartphone genügt, und das berühmte "Kommen" und "Gehen" eines Zeiterfassungsgeräts ist aktiviert. (8)



Weiterführende Literatur:

(1.) Rückkehr der Stechuhr
aus Handelsblatt Nr. 093 vom 15.05.2019 Seite 006

(2.) Betriebe befürchten Pflicht zur Stechuhr
aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.05.2019, Nr. 112, S. 15

(3.) Was sich bei der Arbeitszeit ändern muss
aus "Der Standard" vom 06.06.2019 Seite: 16

(4.) Die Zeit der Stechuhr ist vorbei
aus Kölner Stadt-Anzeiger vom 05.06.2019

(5.) Geht doch nach Hause!
aus WirtschaftsWoche NR. 022 vom 24.05.2019 Seite 094

(6.) EuGH-Urteil verlangt die Erfassung der Arbeitszeit auch im Home Office
aus Computerwoche, 03.06.2019, Nr. 23

(7.) Arbeitszeiterfassung vs. Vertrauensarbeitszeit
aus AUTOHAUS, Heft 11/2019, S. 46-47

(8.) App, Stechuhr - oder gar nix
aus Bayerische Staatszeitung, 31.05.2019, S. 2

Thomas Trares

Metainformationen

Quelle: GENIOS WirtschaftsWissen Nr. 06 vom 18.06.2019
Dokument-ID: c_wipol_20190618

Alle Rechte vorbehalten. © GBI-Genios